Gletschermumie Ötzi als Weltstar - Nach 30 Jahren neue Ideen Von Matthias Röder, dpa

Das Schicksal von Ötzi hat weltweit Schlagzeilen gemacht. 30 Jahre
nach dem Fund der Gletschermumie sind noch nicht alle Fragen zu
seinem gewaltsamen Tod beantwortet. Eine Suche soll helfen.

Vent (dpa) - Das Areal wirkt unscheinbar: Tiefer Altschnee, der eine

mehrere Meter starke Eisschicht bedeckt. Aber die Fläche in der Grö
ße
von zwei Handballfeldern könnte eine eisige Schatztruhe sein. «Wenn

noch etwas zu finden ist, dann an dieser Stelle», sagt der
Innsbrucker Archäologe Walter Leitner. Gleich neben dem Schneefeld
starb vor 5300 Jahren Ötzi, der Mann aus dem Eis. War er wirklich
allein unterwegs? Gab es ein oder zwei Täter, die ihn mit einem
Pfeilschuss hinterrücks ermordeten? Sind weitere Utensilien aus der
Jungsteinzeit nah am Tatort noch von Schnee und Eis bedeckt?

Der Fund vor 30 Jahren (19.9.1991) durch das Nürnberger Ehepaar
Helmut und Erika Simon auf dem 3200 Meter hohen Tisenjoch an der
österreichisch-italienischen Grenze wurde zur weltweiten Sensation.
Eine so gut erhaltene Mumie samt Bogen und Kupferbeil sowie vielen
anderen steinzeitlichen Ausrüstungsgegenständen war und ist ein
Glücksfall für die Wissenschaft. Auf ähnliche Glücksfälle hoffen
die
Experten mehr denn je. «Der Klimawandel kommt uns entgegen, wenn es
darum geht, neue Gletschermumien zu finden», sagt Leitner, der Ötzi
lange wissenschaftlich begleitet hat.

Das Ehepaar Simon war beim Abstieg von der Fineilspitze auf die Mumie
gestoßen, die halb aus dem Schnee ragte. Der Wirt der nahen
Similaunhütte wurde über den Leichenfund alarmiert, die Polizei auch.
Bergsteiger Reinhold Messner, gerade mit Hans Kammerlander in seiner
Heimat auf Tour, schaute sich die Mumie an. «Mir war sofort klar, es
könnte einige Tausend Jahre alt sein», erinnert er sich bei einem
Ortstermin aus Anlass des Fund-Jubiläums an das genauso grausige wie
interessante und berührende Objekt.

Anfangs war eine gemeinsame Einordnung noch schwierig. Die Polizei in
Sölden schrieb in ihrer Anzeige: «Es handelt sich nach der Ausrüstung

zu schließen um einen Alpinunfall, der schon viele Jahre
zurückliegt.» Ein erster Gedanke war, dass es sich bei der Mumie um

einen seit 1938 in der Gegend vermissten italienischen Musikprofessor
handeln könnte.  

Als der Mann aus dem Eis nach rund einer Woche im Institut für
Gerichtliche Medizin in Innsbruck landete, zeichnete sich die
spektakuläre Dimension des Fundes ab. 4000 Jahre alt, lautete das
erste Urteil der Experten, das dann noch nach oben korrigiert wurde.
Ein österreichischer Journalist schuf den in jede Schlagzeile
passenden Namen: Ötzi.   

Das erste Problem war die Frage der richtigen Konservierung einer
Mumie, die einerseits ausgetrocknet, andererseits durch den Gletscher
feucht gehalten worden war. Der Anatom Othmar Gaber aus Innsbruck
entwickelte für Ötzi ein Mehrschichten-System: Er ließ ihn in ein
steriles OP-Tuch einwickeln, viel Crash-Eis dazugeben, dann kam eine
Plastikfolie, noch mehr Eis und eine Raumtemperatur von minus 6,5
Grad Celsius - wie im Gletscher. Der 13,3 Kilogramm leichte Ötzi
wurde auf eine Präzisionswaage gelegt, um bedrohlichen
Gewichtsverlust zu erkennen. Bei jeder der vielen Eismann-Visiten -
sei es zur Kontrolle, zur Probenentnahme oder zur Eis-Erneuerung -
seien aus Angst vor der Einschleppung von Keimen operationsähnliche
sterile Verhältnisse geschaffen worden, fasste Gaber in einem Bericht
zusammen. 1998 wurde die Mumie an Südtirol übergeben.

Ötzi lag - entgegen ersten Annahmen - knapp auf italienischem Gebiet.
92 Meter entschieden darüber, wer den Mann aus dem Eis ausstellen
durfte. Das eigens für die Mumie geschaffene Bozener
Archäologie-Museum besuchen rund 300 000 Menschen im Jahr. Und es
sollen deutlich mehr werden. Inzwischen gibt es politischen Konsens
darüber, dass ein neuer, zeitgerechter Ausstellungsort her muss. «So,

wie es ist, kann es nicht bleiben», heißt es bei den zuständigen
Behörden. Wird Ötzi in der Nachbarschaft eines Einkaufszentrums
liegen oder in der Innenstadt? Die Standortfrage wird wohl nächstes
Jahr geklärt.

Auch die Wissenschaftsszene hat Ötzi in Bozen verändert. Es wurde ein
Institut für Mumienforschung gegründet, geleitet vom Münchner
Biologen Albert Zink. Der Kenner auch ägyptischer Mumien wie
Tutanchamun sieht im etwa 45-jährigen Ötzi einen athletischen,
trainierten Mann. Studien zu dessen Gesundheitszustand hätten zwar
Laktose-Intoleranz, Zahnprobleme, Anlage zu
Herz-Kreislauferkrankungen, Gallensteine und Rheuma ergeben. «Aber
das verbreitete Bild vom kranken Mann würde ich nicht
unterschreiben», sagt Zink. Ötzis inzwischen ebenfalls in Teilen
untersuchte Darmflora zeuge von einer gesundheitlich günstigen
bakteriellen Vielfalt, die heute zunehmend verloren gehe. Gerade
dieser Forschungsansatz habe aktuelle Relevanz beim Verständnis der
Rolle des Darms im menschlichen Immunsystem. 

Zink ist wie Leitner davon überzeugt, dass es sich lohnen würde, das
Schnee- und Eisfeld in der Nachbarschaft des Tatorts genau zu
untersuchen. Diesmal in streng wissenschaftlicher Begleitung, die bei
der Bergung von Ötzi vor 30 Jahren noch fehlte.

Experten der Kriminalpolizei München haben das Puzzle um Ötzis Tod
einmal versucht zusammenzusetzen. Für die Profiler der Kripo handelt
es sich eindeutig um einen Mord aus Heimtücke und nicht aus Habgier,
da das damals extrem wertvolle Kupferbeil von dem oder den Tätern
nicht geraubt wurde. Das Beil mache klar, dass Ötzi Teil der
damaligen Elite gewesen sein muss, so der Archäologe Leitner.
Möglicherweise habe er sich Feinde gemacht oder den Zeitpunkt seines
Abgangs verpasst und musste in einem Hinterhalt sterben.

Ein Beispiel dafür, dass es in der Ötzi-Forschung auch nach vielen
Jahren Überraschungen gibt, ist die Pfeilspitze. Erst nach zehn
Jahren wurde auf neuen Röntgenbildern und einer Computertomographie
erkannt, dass eine Pfeilspitze tief in Ötzis Gewebe steckte und eine
wichtige Arterie verletzt hatte. Das Opfer verblutete. «Die
Pfeilspitze war auch auf den ersten Röntgenbildern schwach zu sehen,
aber niemand hat sie damals registriert», sagt Leitner. 

Für Messner, der nur wenige Kilometer von Ötzis letztem Lagerplatz
entfernt im Schloss Juval im Schnalstal lebt, ist der Fund des
Eismanns ein Impuls aufzuklären. «Er gibt uns Gelegenheit, über das

Leben in den Bergen nun über eine längere Zeitstrecke neu zu
erzählen.» Dabei sieht der Bezwinger aller 14 Achttausender der Erde
auch eine gewisse Verwandtschaft. «Ich halte ihn für einen
Halbnomaden, der ich heute noch bin.»