Stabile Infektionszahlen in Deutschland - die Ruhe vor dem Sturm? Von Josefine Kaukemüller, dpa

Beim Infektionsgeschehen in Deutschland gab es zuletzt wenig Dynamik.
So mancher mag nun schon das Ende der vierten Corona-Welle wittern.
Experten sind aber skeptisch.

Berlin (dpa) - Seit etwa zwei Wochen sind die Corona-Infektionszahlen
in Deutschland relativ stabil - zuletzt sind sie sogar etwas
gesunken. Die Sieben-Tage-Inzidenz lag nach Angaben des Robert
Koch-Instituts (RKI) von Mittwoch bei 77,9 (Vortag: 81,1; Vorwoche:
82,7). Auch bei der Zahl der in Kliniken aufgenommenen
Corona-Patienten - die für politische Entscheidungen besonders im
Vordergrund stehen soll - tut sich wenig. Ist das nun schon wieder
das Ende der vierten Welle, oder sollten wir uns auf einen
anstrengenden Herbst einstellen?

Aus Sicht des Saarbrücker Experten für Corona-Prognosen Thorsten Lehr
beruht die Entwicklung auf mehreren Effekten: Zum einen ebbe die Zahl
der Reiserückkehrer langsam ab - und damit auch die eingeschleppter
Infektionen, sagt er der Deutschen Presse-Agentur.

Zum anderen seien in vielen Bundesländern nach den Sommerferien
zunächst die Infektionszahlen bei Schülern explosionsartig
angestiegen. «Dieser Anstieg ist durch die Durchführungen von Tests
in der Schule und dem Entdecken von in die Schule getragenen
Infektionen zu erklären und nicht durch unkontrollierte Infektionen
in der Schule», betont der Experte. Durch das kontinuierliche Testen
und Quarantänemaßnahmen bei Kontaktpersonen komme es vielerorts ein
bis zwei Wochen nach dem Schulstart nun zu einer Stagnation oder
sogar Abnahme der Zahlen in dieser Altersgruppe. «Es kehrt eine
gewisse Normalität ein.»

Den Zusammenhang mit den Reiserückkehrern begründet
Mobilitätsforscher Kai Nagel zunächst damit, dass eine Ansteckung in
einem Zielland mit höheren Inzidenzen natürlich wahrscheinlicher sei
als zuhause. Außerdem würden Reiserückkehrer aber auch systematischer

getestet, sodass vermutlich auch mehr Fälle entdeckt würden.

Viola Priesemann, Leiterin einer Forschungsgruppe am Göttinger
Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, sieht
außerdem stagnierende Zahlen von Neuinfektionen in den Nachbarländern
als Grund - wegen Reisender und auch Grenzpendler sei es normal,
dass sich die Inzidenzen in Nachbarländern oft anglichen.

Ist die vierte Pandemie-Welle in Deutschland also schon gebrochen?
Nein, mahnt der Epidemiologe Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für
Präventionsforschung und Epidemiologie. «Von einem Ausbremsen der
vierten Welle zu sprechen, ist sicher zu früh.»

Auch Lehr warnt vor voreiligen Schlüssen. «Dieses Verhalten der
Inzidenzkurve haben wir fast auf den Tag genau im letzten Jahr
beobachten können.» Auch damals sei die Inzidenz leicht abgesunken
beziehungsweise auf konstantem Niveau verharrt, bevor sie Ende
September stark angestiegen sei. «Bei der aktuellen Impfsituation und
den gelockerten Kontaktbeschränkungen ist ein ähnlicher Anstieg Ende
September, Anfang Oktober wieder erwartbar», so Lehr.

Der befürchtete Anstieg dürfte aus Lehrs Sicht durch die sogenannte
Saisonalität, also den Einfluss der Jahreszeit, deutlich verstärkt
werden. Habe die Saisonalität im Frühjahr und Sommer noch als
«Rückenwind» bei der Reduktion der Infektionen gewirkt, werde sie ab

Oktober wohl wieder zum «Gegenwind».

Auch Mobilitätsforscher Nagel hält einen deutlichen Anstieg der
Infektionszahlen mit der herbstlichen Verlagerung von Aktivitäten in
Innenräume für wahrscheinlich. Ob dies zu einer Überlastung der
Krankenhäuser führe, sei noch nicht vorhersagbar. «Empfehlenswert ist

auf jeden Fall, dass bis auf weiteres auch Geimpfte vor Begegnungen
in Innenräumen einen Schnelltest machen, da auch sie das Virus
übertragen können», betont Nagel.

«Wir haben auch in Deutschland noch das Potenzial, dass die Zahlen im
Herbst wieder deutlich hochgehen. Und zwar so hoch, dass auch die
Krankenhäuser wieder sehr belastet werden können», warnt Expertin
Priesemann. In vielen Altersgruppen seien noch deutlich mehr als zehn
Prozent der Menschen nicht immunisiert.

Mit Blick auf die Menschen über 50 sagt Priesemann: «Wenn immer noch
über zehn Prozent der relevanten Altersgruppe nicht immunisiert sind,
dann haben diese zehn Prozent das Potenzial, die Masse, um die
Krankenhäuser zu füllen.» Im letzten Winter seien rund zehn bis 15
Prozent der Menschen infiziert worden, und schon das habe die
Krankenhäuser über Monate an die Grenzen gebracht. Deshalb müsse man

moderate Vorsichtsmaßnahmen beibehalten - und weiterhin für eine
Impfung werben - «damit wir ohne Engpässe über den Winter kommen».


Epidemiologe Hajo Zeeb sieht in der Stagnation dennoch einen Grund
für vorsichtigen Optimismus. «Die Hoffnung ist berechtigt, dass
insbesondere angesichts der niedrigen Hospitalisierungs- und
Sterbezahlen der Verlauf dieses Jahr deutlich günstiger wird - wenn
nicht neue Varianten wie in der Vergangenheit diese Aussicht ins
Wanken bringen.»

In jedem Fall, so Lehr, hätten die Menschen in Deutschland die
weitere Entwicklung selbst in der Hand. «Wir sollten diese Ruhephase
vor einem potenziellen Sturm dringend zur Impfung nutzen und nicht
mit Wunden lecken und politischen Diskussionen verstreichen lassen.»