Erster Prozess im Fall Ischgl: Witwe fordert 100 000 Euro Von Matthias Röder, dpa

Tausende von Corona-Fällen der ersten Welle sollen ihren Ursprung im
österreichischen Skiort Ischgl gehabt haben. Nun klagen
Hinterbliebene von Corona-Toten gegen die Republik Österreich.

Wien (dpa) - «Diese Gebiete werden ab sofort isoliert.» Der schlank
e
Satz von Österreichs Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) in einer
Pressekonferenz zur Ausbreitung des Coronavirus am 13. März 2020
schlug ein. Viele Touristen in den Tiroler Skiorten Ischgl, Galtür
oder St. Anton am Arlberg - diese Gebiete waren gemeint - hörten die
Nachricht noch beim Skifahren und wollten durch sofortige Abreise
einer möglichen Quarantäne entkommen. Unter chaotischen Bedingungen
fuhren Infizierte heim und trugen so zur europaweiten Verbreitung des
Virus bei. Ein österreichischer Journalist nahm den Bus zum Bahnhof.
Es wurde wegen Staus eine gefährlich lange Fahrt. Kurz darauf ist er

an Covid-19 gestorben.

Am 17. September beginnt mit der Klage der Witwe und ihres Sohnes auf
100 000 Euro Schadenersatz das erste von vielen Verfahren auch
deutscher Kläger gegen die Republik Österreich. Die sogenannte
Amtshaftungsklage sieht ein Versagen der Behörden, die zu spät vor
dem Virus gewarnt und zu spät gehandelt hätten. «Ich schätze, das
s
letztlich bis zu 3000 Ansprüche an die Republik gestellt
werden», sagt Peter Kolba vom Verbraucherschutzverein (VSV) in Wien,
der die Kläger betreut. Der VSV hat vor, Sammelklagen einzubringen.
Am Freitag werde sich die Frage stellen, ob diese Zahl an Ansprüchen
nicht besser in Vergleichsverhandlungen gelöst werden sollten.

Der VSV hat auch beantragt, den Kanzler, den Innenminister Karl
Nehammer, den damaligen Gesundheitsminister Rudolf Anschober sowie
Vizekanzler Werner Kogler als Zeugen zu laden. «Kurz ist ein
zentraler Zeuge», sagt Kolba. Er könne darüber aussagen, wie die
Absprachen zwischen Land Tirol und dem Bund in Wien über die geplante
Ausreise gelaufen seien. Aus Sicht des VSV ist Kurz mit seiner
Pressekonferenz vorgeprescht, bevor die Vorbereitungen in Ischgl für

eine geordnete Abreise abgeschlossen waren. «Mehr als
10 000 Menschen haben das Tal verlassen, aber nur in 2600 Fällen
erfolgte ein Kontakt-Tracing mit Hilfe von Gäste-Ausreiseformularen»,
so Kolba.

Der Bericht einer unabhängigen Expertenkommission hält dazu fest:
«Diese Ankündigung (Anm.: des Kanzlers) führte bei den Gästen und

Mitarbeitern zu Panikreaktionen, die nach den Angaben der
Auskunftspersonen, die bei der überstürzten Abreise gegenwärtig
waren, von ihnen so noch nie erlebt worden sind.» Die Chance, das
gesamte Wochenende gestaffelt für die Abreise zu nutzen, sei nicht
wahrgenommen worden. In Ischgl seien Fehler gemacht worden, aber es
sei kein generelles Versagen festzustellen, hieß es in dem vor einem
Jahr präsentierten Bericht. 

Die österreichische Finanzprokuratur, die die rechtlichen Interessen
des Staates vor Gericht vertritt, hat stets betont, alles sei richtig
gemacht worden. Bei der Debatte über Fehler der Behörden spielt auch
der Hinweis eine Rolle, dass das Wissen über das Virus am Beginn der
ersten europaweiten Welle lange nicht so gründlich war wie heute. Das
lässt Kolba nicht gelten. «Unser stärkstes Argument ist, dass man
eine Woche früher den Skibetrieb hätte schließen müssen», sagt er
mit
Verweis auf damals erste Infektionsfälle unter Ischgl-Touristen
Anfang März. 

Ischgls Partyszene, seine vielen Après-Skibars, das von Alkohol
enthemmte Feiern - diese Bilder spiegeln nur einen Teil des Skiorts
wider. Aber sie trugen dazu bei, dass Ischgl zeitweise als Synonym
für ein Verdrängen von Corona-Gefahren galt. Der Ort und die
Landesregierung haben die Konsequenzen daraus gezogen. Ein Feiern wie
früher werde es in diesen Zeiten nicht mehr geben, hieß es mehrfach.
In der kommenden Wintersaison sollen nach den Plänen von
Tourismusministerin Elisabeth Köstinger strenge Zugangsregeln
speziell beim Après-Ski gelten. 

Davon hat Dörte Sittig aus der Nähe von Köln wenig. Ihr
Lebensgefährte starb nach einem Ischgl-Urlaub mit 52 Jahren an
Corona. Vor ihrem eigenen Gerichtstermin will sie am Freitag den
ersten Prozess mitverfolgen. Dem Kölner «Express» sagte sie einmal:
«Die haben meinen Mann ins Messer laufen lassen.» Der Betrieb im Ort
sei von den Behörden nicht rechtzeitig geschlossen worden. Viele
andere Gemeinden hätten dagegen reagiert.