Vergessene der Pandemie - Corona und Pflegebedürftige zu Hause Von Sebastian Schlenker, dpa

Die Pandemie stellt Pflegebedürftige in den eigenen vier Wänden vor
große Herausforderungen. Dies zeigt eine neue Studie. Was erleben
Menschen bei der Pflege zu Hause in Corona-Zeiten?

Biberach/Berlin (dpa) - Wenn Edeltraud Geister über das vergangene
Jahr spricht, erzählt sie vor allem von Überforderung und dem
Auf-sich-allein-gestellt-Sein. Die 67-jährige Rentnerin aus Biberach
im Südosten Baden-Württembergs pflegte während der Pandemie ihren
dementen Ehemann bei sich zu Hause. Dabei geriet sie an ihre eigenen
Grenzen - wie viele andere pflegende Angehörige in Deutschland. Viele
leiden unter Überforderung, Angst vor Ansteckung und sozialer
Isolation.

Edeltraud Geister nahm wie rund 16 000 weitere Mitglieder des
Sozialverbands VdK an einer Studie zur Pflegesituation zu Hause teil.
Die Ergebnisse der am Montag in Berlin vorgestellten Befragung von
Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen fallen deutlich aus. Sie
zeichnen ein ähnliches Bild von nervenzehrender Dauerbelastung wie
bei der stationären Pflege während der Pandemie auch - nur dass hier
die Last den Angehörigen zufällt und nicht ausgebildetem
Pflegepersonal.

Edeltraud Geister musste deshalb zeitweise selbst in Behandlung.
Inzwischen wird ihr 79-jähriger Mann in einem Pflegeheim betreut. Vor
der Pandemie war Peter Geister noch selbstständig, ging zum
Zeitungsladen und besuchte Freunde, erzählt seine Frau. Seit Ende
2019 verschlechterte sich sein Zustand und Geister musste sich
zunehmend rund um die Uhr um ihn kümmern. «Er hat sich wahnsinnig an
mich geklammert», berichtet die ehemalige Laborassistentin. Mit
Beginn der Pandemie und aus Angst vor Ansteckung isolieren sich die
Eheleute fast komplett, da sie beide zur Risikogruppe gehören. Die
Haushaltshilfe mit zwei Schulkindern baten sie, künftig nicht mehr zu
kommen.

In der Studie des VdK berichteten 76 Prozent der Pflegebedürftigen
von der Befürchtung, an Corona zu erkranken und an Spätfolgen zu
leiden. Auch 72 Prozent der Angehörigen trieb diese Angst um. Mehr
als zwei Drittel gingen demnach davon aus, dass sich ihre Situation
durch die Pandemie verschlechtert, bei den Angehörigen sahen das 57
Prozent so.

Edeltraud Geister musste dies selbst erleben. Während die Aufgaben
für die 67-Jährige zu Hause immer größer wurden, schrumpften die
Freiräume aufgrund der Einschränkungen der Pandemie immer weiter
zusammen. Ein Treffen mit Freunden oder Erfüllung als Übungsleiterin
beim Seniorensport blieben ihr verwehrt. Stattdessen musste sie sich
immer intensiver um ihren dementen Mann kümmern, dessen Zustand sich
in dieser Zeit weiter verschlechterte.

Aufgrund der Demenz habe ihr Mann nicht verstanden, warum er zu Hause
bleiben oder eine Maske tragen soll. Er habe sie immer wieder in
Erklärungsnot gebracht, es kam öfter zu Streit. Die Entlastung durch
eine Tagespflege hat im Sommer 2020 wegen eines weiteren Lockdowns
nach nur wenigen Tagen ein Ende, der Corona-Alltag bleibt eine
Herausforderung. «Das Atemholen hat mir gefehlt. Nicht immer daran
denken, was muss ich morgen machen muss.»

Für Edeltraud Geister wird die Belastung zu viel. Sie erkrankt an
einer Depression und wird im März in einer Klinik behandelt. Wenig
später muss sie die schwere Entscheidung treffen, dass sie sich nicht
mehr selbst um ihren Mann kümmern kann. Im Mai kommt der 79-Jährige
zunächst in ein Krankenhaus, seit Juni ist er einem Pflegeheim.

Die Studie spiegelt die Eindrücke der pflegenden Angehörigen aus
Biberach. 81 Prozent der Pflegebedürftigen gaben dort an, den Kontakt
zu Dritten außerhalb des Haushalts gemieden zu haben, bei den
Angehörigen war der Anteil mit 87 Prozent noch höher. Ein Drittel der
Pflegebedürftigen verließ das Haus laut der Erhebung gar nicht mehr.
Der Großteil der befragten Pflegebedürftigen (78 Prozent) und
Angehörigen (84 Prozent) berichtete von der Pandemie als belastende
Zeit.

Der VdK fordert angesichts dieser Erkenntnisse eine Erhöhung der
ambulanten Leistungen für die Pflege zu Hause. Zudem brauche es
Entlastungsangebote für pflegende Angehörige. «Das wirre
Nebeneinander von Kurzzeit- und Verhinderungspflege muss ein Ende
haben», unterstrich die VdK-Vorsitzende Verena Bentele.

Der Sozialverband spricht sich zudem für Ersatzleistungen für
arbeitende Pflegende aus und einen Anspruch darauf, für die Pflege
von der Arbeit freigestellt zu werden. Um eine Situation wie die von
Edeltraud Geister künftig zu verhindern, soll es laut VdK einen
bundesweit gültigen Krisen- und Katastrophenplan geben, der die
Versorgung zu Hause sicherstellt, auch wenn Pflegebedürftige und ihre
Angehörigen nicht mehr das Haus verlassen können oder wollen.