Hälfte der Bevölkerung ist mindestens einmal gegen Corona geimpft Von Gisela Gross, dpa

Eine wichtige Marke auf dem Weg zur erhofften Herdenimmunität ist
erreicht: Jeder Zweite in Deutschland hat mindestens eine Spritze zum
Schutz vor Covid-19 bekommen. Was das bedeutet.

Berlin (dpa) - Im sechsten Monat nach dem Start der
Corona-Impfkampagne in Deutschland hat die Hälfte der Bevölkerung
mindestens eine erste Dosis erhalten. Die Quote der erstgeimpften
Bürgerinnen und Bürger lag nach Angaben des Robert Koch-Instituts
(RKI) vom Freitag bei 50,1 Prozent der Gesamtbevölkerung oder 41,66
Millionen Menschen. 29,6 Prozent hatten demnach bereits den vollen
Schutz - knapp 25 Millionen Menschen.

Das bedeutet auch: Viele Millionen Menschen sind noch ungeschützt
oder erst teilgeschützt. Eine einmalige Impfung biete noch nicht
genügend Schutz vor einer Infektion, sagte RKI-Präsident Lothar
Wieler Anfang Juni. Anders ist das nur beim Janssen-Impfstoff, der
bereits nach einer Dosis vollen Schutz bietet. Um weitgehend auf
Maßnahmen verzichten zu können, bräuchten mehr als 80 Prozent der
Bevölkerung einen Immunschutz - entweder durch vollständige Impfung
oder durchgemachte Infektion plus Impfung. Sollte man künftig einer
noch ansteckenderen Virusvariante die Stirn bieten müssen, wäre wohl
ein noch höherer Anteil nötig.

Wie viel bewirken die bisherigen Erstimpfungen? Ihr Anteil am
Rückgang der Fallzahlen seit dem Höhepunkt der dritten Welle ist
nicht leicht zu beziffern. Experten verweisen auf ein Zusammenspiel
vieler Faktoren, darunter Impfungen, aber auch Corona-Maßnahmen wie
Kontaktbeschränkungen, Saisoneffekte und das Testverhalten. Da
anfangs vor allem Menschen mit hohem Risiko für schwere
Krankheitsverläufe geimpft wurden, beschrieben Wissenschaftler die
Rolle dieser Impfungen zum Bremsen der Pandemie als untergeordnet.
Denn ältere Menschen haben meist weniger Kontakte als mobile Junge.

«Die zunehmenden Impfungen helfen dabei, die Infektionszahlen zu
senken. Aber dass sie zuletzt nicht allein den Unterschied machten,
sieht man daran, dass die Inzidenzen auch in weitgehend ungeimpften
Altersgruppen gesunken sind», sagte der Immunologe Carsten Watzl der
Deutschen Presse-Agentur.

Gesundheitsdaten aus Israel weisen allerdings darauf hin, dass eine
hohe Impfquote im Land offenbar das Risiko für ungeimpfte Jugendliche
vermindern kann, sich mit Corona anzustecken. Mit zunehmender Zahl
geimpfter Erwachsener wurden demnach immer weniger unter 16-Jährige
positiv auf Corona getestet, berichten israelische Forscher im
Fachjournal «Nature Medicine». Allerdings seien weitere Analysen zu
diesem Effekt nötig.

Experten aus Virologie und Epidemiologie erwarten, dass sich die Last
durch die Krankheit mit fortschreitenden Impfungen immer weiter
reduziert: mit weniger Krankenhausbehandlungen, weniger Fällen auf
Intensivstationen und weniger Todesfällen. Der Virologe Christian
Drosten stellte im NDR-Info-Podcast «Coronavirus-Update» in Aussicht,
dass man irgendwann über den Sommer «zu einer anderen Betrachtung der
ganzen Bedrohungslage» kommen müsse.

«Die Länder, die eine Durchimpfung von 50 oder 60 Prozent haben,
dürften dieses Jahr keine größeren landesweiten Ausbrüche oder Well
en
mehr erleben, wie wir sie gerade in Indien sehen», sagte der
US-Epidemiologe Michael Osterholm kürzlich «Zeit Online» mit Blick
auf die USA, Großbritannien und Israel. Auch für Deutschland erwartet
das RKI bei vorsichtigen Öffnungsschritten und zunehmender
Durchimpfung in nächster Zeit kein unkontrolliertes
Infektionsgeschehen mehr.

Osterholm verwies allerdings auf Bevölkerungsgruppen, in denen wegen
geringer Impfquoten weiter Ausbrüche drohen: «Ganz entscheidend wird
in Zukunft sein, ob alle Menschen den Impfstoffen vertrauen oder ob
sich das Vertrauen zwischen bestimmten Nachbarschaften, sozialen
Schichten und ethnischen Gruppen stark unterscheidet.»

Genaue Daten zum Impffortschritt in bestimmten Gruppen vermissen
Experten in Deutschland. Seit auch Spritzen in Arztpraxen gesetzt
werden, gibt es in RKI-Statistiken zum Beispiel nur noch eine grobe
Alterseinteilung: Ablesen lässt sich der Anteil der Impfungen bei
Menschen über 60 oder unter 60 Jahren - und das auch nicht bei allen
Bundesländern. Genauere Daten würden höheren Dokumentationsaufwand
bedeuten.

Watzl befürchtet für Deutschland, dass Impfmüdigkeit einsetzen
könnte, wenn erst einmal 50 Prozent und mehr geimpft sind: «Wenn es
uns gelingt, die Inzidenzen über den Sommer niedrig zu halten, werden
sich 30-Jährige, die im Frühjahr nicht an einen Impftermin gekommen
sind, vielleicht fragen, warum sie sich jetzt noch impfen lassen
sollten. Sie könnten sich fragen, wo denn ihr Risiko ist.» Auch in
anderen Ländern, die bereits höhere Quoten aufweisen, zeigte sich,
dass die Kampagnen ab einem gewissen Punkt ins Stocken gerieten -
teils wird dort nun mit allen erdenklichen Anreizen für den Piks
geworben.

Dabei ist der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für
Immunologie sicher, dass es eine vierte Welle geben wird, spätestens
im Herbst. «Wie groß sie ausfallen wird, hängt vom Impferfolg und der

Höhe der Inzidenzen am Ende des Sommers ab.» Vermieden werde müsse
ein Szenario, bei dem ein Teil der Bevölkerung erst im Herbst bei
direkter Konfrontation mit der Virusgefahr wieder ans Impfen denkt:
«Dann bekommen wir ein logistisches Problem.»

Erstimpfungen gelten als Schutz insbesondere vor schwerer Erkrankung.
Der wird durch die Zweitimpfung noch verbessert und verlängert. «Ein
bisschen entspannen können sich einfach Geimpfte, aber leichtsinnig
werden sollten sie nicht», sagte Watzl. Insbesondere Virusvarianten,
die seit Monaten für das Gros der Fälle in Deutschland sorgen, werden
als Gefahr gesehen. «Die Zweitimpfung ist dringend notwendig, um auch
die Mutanten gut abwehren zu können.» Lediglich das Präparat von
Johnson & Johnson ist als Einmalimpfung zugelassen.

Allerdings wirkt keine Impfung zu 100 Prozent, Ansteckungen und
zumindest leichtere Erkrankungen sind weiterhin möglich - sie sind
nur wesentlich unwahrscheinlicher. Varianten können zudem durch
Erbgutveränderungen Eigenschaften erlangt haben, die es ihnen
ermöglichen, Antikörpern von Geimpften und Genesenen zu entgehen. In
der Fachsprache heißt das Immunescape (Immunflucht). Beobachtet wird
das etwa bei Beta (B.1.351), Gamma (P.1) und Delta (B.1.617). Der
Immunschutz wird nicht komplett ausgeschaltet, ist aber merklich
vermindert.

Die derzeit in Deutschland dominierende Variante Alpha (B.1.1.7) hat
die Eigenschaft, ansteckender zu sein. Wie eine «Science»-Studie
kürzlich zeigte, scheiden damit Infizierte etwa 10 mal mehr Virus aus
als Menschen, die sich mit Vorgängerversionen ansteckten. Auch das
ist für den Impfschutz bedeutsam, wie Watzl erläutert: «Wie gut der
Schutz ausfällt, hängt nicht nur vom Immunsystem des Einzelnen ab,
sondern auch von der Menge an Virus, der man ausgesetzt ist.»

Zudem hat sich gerade bei immungeschwächten Menschen - etwa nach
Organtransplantation oder mit Krebs - gezeigt, dass die Impfung nicht
so gut anschlägt. Watzl rechnet in diesen Gruppen mit Drittimpfungen
bereits im Herbst.

Nach Zahlen, die das Bundesgesundheitsministerium im Mai bekanntgab,
steckten sich bisher rund 13 000 Menschen an, die bereits voll
geimpft waren. Die Zahl klingt hoch, aber in Relation zur Gesamtzahl
der bis dahin komplett Geimpften waren nur 0,16 Prozent betroffen.
Auch war bei den Zahlen nicht klar, ob die Infektion bei vollem
Impfschutz auftrat - also mehr als 14 Tage nach der zweiten Impfung -
oder in den Tagen davor.