Warten auf «Freiheit»: Delta wirbelt Johnsons Öffnungen durcheinander Von Benedikt von Imhoff, dpa

Lange wähnte sich Großbritannien auf einem guten Weg: Das Ende der
Corona-Restriktionen war in Sichtweite, der 21. Juni als «Freedom
Day» geplant. Doch Premier Johnson hat die Rechnung ohne die
Delta-Variante gemacht. Was kann Deutschland daraus lernen?

London (dpa) - Der «Tag der Freiheit» muss warten. Mit lautem Murren
haben konservative Politiker in Großbritannien auf die Entscheidung
von Premier Boris Johnson reagiert, das Ende aller Corona-Maßnahmen
doch um vier Wochen zu verschieben. «Die gestrige Nachricht war eine
bittere Enttäuschung», twitterte Kulturminister Oliver Dowden am
Dienstag. Für den 21. Juni hatten viele Briten bereits den «Freedom
Day» ausgerufen. Masken und Abstandsregeln sollten fallen. Doch seit
Wochen drängten Wissenschaftler den Premier zur Verlängerung. Nun hat
auch Johnson ein Einsehen und lässt sich von der hoch ansteckenden
Delta-Variante den Öffnungsplan durcheinander wirbeln.

Die Zahl der Neuinfektionen steigt seit Tagen, die
Sieben-Tage-Inzidenz ist von unter 20 auf zuletzt rund 70 in die Höhe
geschnellt, und auch in den Krankenhäusern sind wieder mehr
Corona-Patienten. Johnson hatte letztlich keine Wahl. «Daten, kein
Datum», hatte er stets beteuert, würden den Öffnungskurs bestimmen.
Der Weg aus dem Lockdown werde eine «Einbahnstraße» sein,
«vorsichtig, aber irreversibel» werde er die Maßnahmen aufheben. Die

Pause bis zum 19. Juli werde Tausende Leben retten, betonte Johnson,
vom Sender Sky News «Mr Delay» - Herr Verzögerung - getauft, nun.

Ziel der Regierung ist, dass das Virus nicht die gut laufende
Impfkampagne überholt. Dafür zieht sie den Zeitplan an. Spätestens in

der Woche vom 19. Juli sollen alle über 40-Jährigen ihre zweite, für

den vollen Schutz nötige Corona-Impfung erhalten, alle über
18-Jährigen ihre erste. Die Botschaft: Der vollständige Impfschutz
ist von entscheidender Bedeutung bei der Bekämpfung der Pandemie.

«Hätten wir die Delta-Variante ohne Impfstoff, würde uns das in einen

recht katastrophalen Zustand versetzen», sagte Mark Walport vom
wissenschaftlichen Beratungsgremium Sage bei Sky News. Dazu passt
eine Datenanalyse der Gesundheitsbehörde Public Health England (PHE),
der zufolge zwei Impfdosen der Mittel von Biontech/Pfizer oder
Astrazeneca schwere Krankheitsverläufe wegen Delta verhindern.

Längst ist diese Delta-Variante, die zuerst in Indien entdeckt wurde,
in Großbritannien dominant, sie hat die Alpha-Variante, die erstmals
in Südostengland bemerkt wurde, locker überholt. Gut 90 Prozent der
neuen Fälle im Vereinigten Königreich sind auf Delta zurückzuführen
.
Das dürfte auch Deutschland, wo sich die Lage zuletzt erheblich
verbessert hatte, zu spüren bekommen. Delta oder ähnliche Varianten
würden «sicherlich bis zum Herbst hier auch das Feld dominieren»,
sagte der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité
kürzlich im Podcast «Coronavirus-Update» von NDR-Info.

Deutschland ist derzeit da, wo Großbritannien sich noch vor wenigen
Wochen wähnte. Die Sieben-Tage-Inzidenz fällt jeden Tag deutlich, die
Zahl der Corona-Patienten in Krankenhäusern sinkt, ebenso die Zahl
der Toten. Lockerungen werden möglich, ein Ende des Corona-Tunnels
scheint in Sicht. Nun mahnen Experten zur Eile. Es gelte, für eine
möglichst hohe Impfquote bei Erwachsenen zu sorgen, sagte Drosten.

Denn die Delta-Variante ist wesentlich ansteckender als der
Alpha-Typ: Das Risiko, Angehörige des eigenen Haushalts zu
infizieren, ist laut PHE schätzungsweise 60 Prozent höher. Das
verstärkt die Gefahr für Menschen, die bisher nur einmal gegen das
Virus geimpft wurden. Und gerade das in Großbritannien stark genutzte
Astrazeneca-Mittel schützt offenbar nach einer Dosis deutlich weniger
gegen die Delta-Variante als etwa das Biontech-Präparat.

Riskant ist Delta auch deshalb, weil die Variante offenbar etwas
andere Symptome verursacht als bisher bekannt. Kopfschmerzen,
laufende Nase und raue Kehle wurden zuletzt in einer britischen App
zur Überwachung von Corona-Symptomen gemeldet. Fieber gehört zwar
immer noch dazu, nicht aber der Verlust von Geruchs- und
Geschmackssinn. Das bedeute, dass sich Covid-19 für einige jüngere
Menschen stärker wie eine einfache Erkältung anfühle, sagte
Studienleiter Tim Spector vom King's College London.

Bisher bleibt die Delta-Variante in Deutschland niedrig. Zuletzt hieß
es vom Robert Koch-Institut (RKI), ihr Anteil an den untersuchten
Proben betrage 2,5 Prozent. Allerdings beziehen sich die Angaben auf
Proben aus der Woche vom 24. bis 30. Mai. Umso gespannter warten
Experten auf den neuen RKI-Wochenbericht an diesem Mittwoch. Wegen
der Delta-Ausbreitung hat die Bundesregierung das Vereinigte
Königreich zum Virusvariantengebiet erklärt - das bedeutet scharfe
Einreiseregeln und harte Quarantänemaßnahmen.

In England steigt derweil der Druck auf Premier Johnson. Konservative
Hardliner fordern, der 19. Juli müsse endgültig das Ende aller
Maßnahmen bedeuten. Das Risiko sei sonst groß, dass immer wieder
verlängert werde, gerade im ohnehin virenreichen Herbst. «Die
Öffentlichkeit muss verstehen, dass ein Risiko einfach dazu gehört»,

sagte der einflussreiche Abgeordnete Mark Harper dem Radiosender LBC.

Auch die Opposition nimmt Johnson ins Visier. Die Labour-Partei wirft
ihm vor, zu lange gewartet zu haben. Der Gesundheitsexperte Jonathan
Ashworth sagte, der Premier habe der Delta-Variante den roten Teppich
ausgerollte. Erst Wochen nach Bekanntwerden der Mutante hatte die
Regierung Indien auf eine «rote Liste» gesetzt - und Berichte
zurückgewiesen, damit habe sie eine letztlich doch abgesagte
Johnson-Reise in das südasiatische Land nicht gefährden wollen.
Labour-Innenpolitiker Nick Thomas-Symonds sprach sogar von der
«Johnson-Variante».

Vertraute des Premiers weisen solche Anschuldigungen empört zurück.
Zugleich versichern sie, nur im Ausnahmefall würde der «Freedom Day»

erneut verschoben. «Es müsste eine beispiellose und bemerkenswerte
Veränderung in der Entwicklung der Krankheit geben», sagte
Staatsminister Michael Gove am Dienstag dem zu Sky News.