Warum der rasche Rückgang der Corona-Inzidenz bald ausgebremst wird Von Marco Krefting, dpa

Impfungen, Wärme und frische Luft einerseits - Mutanten, Lockerungen
und Innengastro andererseits. Die Corona-Prognose für den Sommer
klingt gut. Doch das rasante Abflauen wird wohl bald ein Ende haben.

Berlin (dpa) - Mancher konnte es in den vergangenen Wochen gar nicht
fassen, wie schnell die Corona-Inzidenz purzelte. Da waren wichtige
Grenzwerte für Lockerungen so schnell unterschritten, dass hier und
da zwei Öffnungsschritte auf einmal genommen werden konnten.

Dass das so ist, hat mit der Corona-Notbremse und weniger Kontakten
zu tun. Und mit dem Impfen, weshalb weniger Menschen infiziert
werden. Und mit höheren Temperaturen, die es den Viren schwerer
machen. Und mit frischer Luft, an der man im Sommer häufiger ist und
in der Sars-CoV-2 schlechter übertragen wird. Und mit Mathematik.

Hier kommt es auf die sogenannte Reproduktionszahl an. Die gibt an,
wie viele Menschen eine infizierte Person im Mittel ansteckt. Liegt
dieser R-Wert unter 1, nimmt die Entwicklung im Modell exponentiell
ab. Je niedriger der Faktor - also je weiter weg von 1 -, desto
schneller der Rückgang, wie André Scherag vom Institut für
Medizinische Statistik, Informatik und Datenwissenschaften des
Universitätsklinikums Jena erklärt.

Mit exponentiellen Veränderungen hatten wir schon mehrfach zu tun in
den vergangenen anderthalb Jahren: Immer dann, wenn die Zahlen rasant
in die Höhe schnellten. Sobald der R-Wert über 1 liegt, ist das
Wachstum nach dem einfachen Modell exponentiell. Hier gilt umgekehrt:
Je höher der Wert ist, desto rascher breitet sich das Virus aus.

Ein niedriger R-Wert über 1 würde also ein langsameres exponentielles
Wachstum bedeuten. Statistik-Professor Helmut Küchenhoff von der
Ludwig-Maximilians-Universität München vergleicht die Pandemie mit
der Zins-Entwicklung: «Ist der Zinssatz nicht so hoch, dauert es
lange, bis sich das Geld vermehrt. Ist er höher, wird man schneller
reich.» Zudem komme es darauf an, wie viel Geld überhaupt vorhanden
ist. «So ist es auch bei Infektionen: Wenn viele schon krank sind,
können die auch mehr anstecken», sagt Küchenhoff. «Exponentielles
Wachstum ist nicht gleich starkes Wachstum», stellt er klar.

Gerade sind wir also gewissermaßen im Gegentrend: Zuletzt waren die
Inzidenzwerte vielerorts im Sinkflug. Doch wer sich Musterkurven für
den Verlauf eines exponentiellen Abflauens anschaut, sieht auch, dass
die Linien sich mit Verlauf der Zeit strecken.

Der Rückgang der Corona-Zahlen werde sich notgedrungen verlangsamen,
selbst wenn es noch eine Weile bei exponentiell fallenden Zahlen
bleibt, erklärt Jan Fuhrmann vom Forschungszentrum Jülich. «Ähnlich

wie ein exponentieller Anstieg anfangs sehr langsam erscheint und
sich dann immer weiter beschleunigt, beginnt ein exponentieller
Abfall rasant und wird immer langsamer.» Ein Beispiel: Bei konstantem
R unter 1 gehe der Rückgang von einer 200er-Inzidenz auf 100 ähnlich
schnell - oder langsam, je nach Sichtweise - wie von 40 auf 20.

Und die Bedingung, dass der R-Wert sich nicht ändert, macht schon
deutlich: Das gilt in der Theorie. Aussagen über exponentielles
Wachstum seien vor allem im Modell leicht zu machen, sagt Scherag.
Allerdings sei die Realität komplexer. So würden aktuell verschiedene

Maßnahmen gelockert, Impfungen und durchgemachte Infektionen hätten
Auswirkungen, und verschiedene Coronavirus-Varianten seien
unterschiedlich ansteckend. Die Effekte überlagerten sich, und das
einfache Modell greife nicht mehr. «Zwar kann man dann einen R-Wert
auf Basis der existierenden Daten berechnen», sagt der Professor.
«Eine einfache Interpretation ist in der Regel nicht mehr möglich.»

Auch Küchenhoff betont, Modellrechnungen seien mit großen
Unsicherheiten verbunden, die beim Erstellen mehr oder weniger gut
berücksichtigt werden können. Er spricht von «stochastisch
exponentiellem Wachstum», das also in Teilen vom Zufall abhängt.

Zudem kämen manche Einflüsse von außen, betont der Statistiker - etwa

die zuerst in Indien entdeckte Delta-Variante des Coronavirus. Würden
beispielsweise jeden Tag zehn damit infizierte Menschen mit dem
Flugzeug nach Deutschland reisen, wäre der Anstieg linear.

Verwirrend? «Das Problem ist, dass wir Menschen uns exponentielle
Entwicklungen nur schwer vorstellen können», sagt Scherag. «Menschen

neigen dazu, in linearen Zusammenhängen zu denken.» Erschwerend hinzu
komme, dass lineares und exponentielles Wachstum am Anfang oft kaum
unterscheidbar sind. «Und wenn Sie merken, dass Sie im exponentiellen
Wachstum stecken, ist es meist schon zu spät, um gegenzusteuern.»

Für den Sommer rechnet Fuhrmann ähnlich wie im letzten Jahr mit einem
mäßigen Infektionsgeschehen. Zwar seien die vorherrschenden
Virusvarianten ansteckender, ein zunehmender Anteil potenziell
infizierbarer Personen sei aber durch Impfung geschützt.

Dass der Abwärtstrend sich aber beschleunigt, glaubt er nicht. «Zumal
mit sinkender Inzidenz immer Öffnungsschritte einhergehen, die
wiederum zusätzliche Kontakte und damit mögliche Übertragungswege zur

Folge haben», erläutert er. «Da mit einer vollständigen Ausrottung

des Virus in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist, wird aber auch der
exponentielle Trend selbst im günstigsten Fall früher oder später
abbrechen, und die Inzidenz wird um ein niedriges Niveau schwanken.»

Das Beispiel Großbritannien zeige zudem, dass eine Kombination aus
weitreichenden Öffnungsschritten und erneuten Mutationen trotz hoher
Durchimpfung und saisonal bedingtem Abflauen des Infektionsgeschehens
zu erneut steigenden Fallzahlen führen kann.

Schon eine Stellschraube kann entscheidend sein, wie er - im Modell -
verdeutlicht: Seit einigen Wochen liegt der R-Wert in Deutschland bei
grob 0,8. Ersetzte man in dieser Situation nur die aktuell
dominierende Virusvariante B.1.1.7 durch eine im Schnitt 30 Prozent
leichter übertragbare, so stiege R laut Fuhrmann auf knapp über 1 -
und man käme bald aus einem zügigen Abwärtstrend zu einem
schleichenden, sich beschleunigenden Anstieg der Inzidenz. «Und dabei
wäre angenommen, dass alle anderen Rahmenbedingungen völlig
unverändert blieben.»