Experte: Wiederbelebung könnte im Jahr 10 000 Menschen mehr retten

Jedes Jahr sterben in Deutschland Zehntausende Menschen nach
plötzlichem Herzstillstand. Gefährdet sind nicht nur Ältere. Ein
Experte ist sich sicher: Tausende Menschen könnten gerettet werden.

Berlin (dpa) - Nach dem Zusammenbruch des dänischen Fußballspielers
Christian Eriksen am Samstag beim EM-Vorrundenspiel gegen Finnland
sitzt der Schock bei vielen tief. Der Däne erlitt einen
Herzstillstand, wurde reanimiert und ist nun laut Experten in
stabilem Zustand. Doch viele Menschen überleben einen Herzstillstand
nicht.

Bernd Böttiger, Direktor der Klinik für Anästhesiologie und Operative

Intensivmedizin des Universitätsklinikums Kölns, spricht von
mindestens 70 000 Menschen, die jedes Jahr in Deutschland an
plötzlichem Herzversagen sterben - vermutlich seien es aber noch
deutlich mehr. Als Todesursache sei «der plötzliche
Herz-Kreislaufstillstand fast so häufig wie alle Krebserkrankungen
zusammen», sagte Böttiger der Deutschen Presse-Agentur. Er ist
sicher: Wüssten alle Menschen, wie Wiederbelebung funktioniert,
«könnten wir jedes Jahr zusätzlich 10 000 Menschenleben bei uns
retten».

Im Durchschnitt, so der Experte, seien vom plötzlichen Herzstillstand
betroffene Menschen etwa Mitte 60, rund zwei Drittel von ihnen seien
Männer. Hauptursache können demnach ein Herzinfarkt oder schwere
Herzrhythmusstörungen sein. Seltener seien Entzündungen des
Herzmuskels oder der Herzkranzgefäße oder angeborene Anomalien.

Mit Blick auf den erst 29 Jahre alten Eriksen sagt Böttiger: «Bei
jüngeren, gesunden Menschen sind all diese Dinge sehr, sehr selten,
aber nicht ausgeschlossen.» Bei Sportlern, die einen
Herz-Kreislaufstillstand erlitten, könnten Entzündungen
ausschlaggebend sein. Möglicherweise könne eine Grippe oder ähnliche

Erkrankung unbemerkt auf das Herz schlagen. Der Herzstillstand könne
die Menschen dann aus heiterem Himmel treffen - «selbst wenn man noch
so aktiv und gut in ärztlicher Behandlung ist», mahnt Böttiger.

Philipp Sommer, Sprecher der Arbeitsgruppe Rhythmologie der Deutschen
Gesellschaft für Kardiologie (DGK), verweist darauf, dass besonders
bei Leistungssportlern auch sogenannte Ionenkanalerkrankungen als
Auslöser denkbar seien. Dadurch, dass Leistungssportler normalerweise
regelmäßige medizinische Checks absolvierten und kontinuierlich
sportliche Höchstleistungen erbrächten, sei ein dysfunktionales Herz
bei ihnen unwahrscheinlich. Bei den vererbbaren
Ionenkanalerkrankungen sei das Herz «strukturell völlig in Ordnung»,

erklärt Sommer. Es handele sich letztlich um vererbbare
Erregungsstörungen der Muskulatur oder des Nervensystems, die in
normalen medizinischen Checks nicht auffielen.

Doch was ist zu tun, wenn das Herz nicht mehr schlägt? Im Ernstfall
zähle jede Sekunde, betont Böttiger. Schließlich werde dann kein Blut

mehr durch den Körper gepumpt, das die Organe mit Sauerstoff
versorgt. Am sensibelsten reagiere das Gehirn auf Sauerstoffmangel.
«Ohne Sauerstoff stirbt das Gehirn nach drei bis fünf Minuten.» Und
so schnell sei meist der Notarzt nicht da.

Wenn man bei einem Menschen einen plötzlichen Herzstillstand erlebe,
seien drei Schritte entscheidend: «prüfen, rufen, drücken». Zunäc
hst
müsse geprüft werden, ob die hilfsbedürftige Person bewusstlos sei
und nicht oder nicht normal atme. Dann gelte es, Hilfe zu rufen - am
besten über den Notruf 112. Danach könne eine schnelle, effektive
Herzdruckmassage, die jeder beherrschen solle, Leben retten, sagt der
Experte. Je später die beginne, desto geringer die Überlebenschancen.

Wichtig sei, die Herzdruckmassage möglichst ununterbrochen
durchzuführen, um von außen die Pumpfunktion des Herzens aufrecht zu
erhalten, bis der Rettungsdienst eintreffe, erklärt Böttiger. Mit
beiden Händen müsse man in der Mitte des Brustkorbs fünf bis sechs
Zentimeter tief drücken - 100 bis 120 Mal in der Minute. Orientierung
könne der Takt vieler bekannter Lieder geben - etwa «Stayin` alive»
von den Bee Gees oder «Atemlos» von Helene Fischer.

Wenn mehrere Menschen vor Ort Erste Hilfe leisten könnten, sei es
sinnvoll, sich abzuwechseln. Wenn noch eine Person übrig sei, könne
die sich nach einem Defibrillator umsehen. Böttiger warnt aber
ausdrücklich davor, diesen vor der Herzdruckmassage zu suchen.
«Prüfen, rufen, drücken ist die Pflicht, ein Defibrillator die Kür.
»
Im Ernstfall warnt Böttiger auch vor Zurückhaltung aus Angst, den
Menschen zu verletzen. «Ich habe noch nie erlebt, dass jemand zu
stark gedrückt hat. Wichtig ist: richtig fest drücken.»

In Deutschland sieht Böttiger, der auch Vorstandsvorsitzender des
Deutschen Rates für Wiederbelebung ist, deutlichen Nachholbedarf bei
der Laien-Wiederbelebung. Nur in etwa 40 Prozent der Fälle führten
Passanten als Ersthelfer die lebensrettende Herzdruckmassage aus.
Länder wie Dänemark seien hier viel weiter. «Genauso wie jeder
Fahrrad fahren kann oder fast jeder schwimmen kann, sollte auch jeder
wiederbeleben können.»

Der Erste-Hilfe-Kurs für den Führerschein komme viel zu spät -
vielmehr brauche es ab der siebten Klasse mindestens zwei Stunden pro
Schuljahr, in denen Kinder und Jugendliche Wiederbelebung lernten,
fordert Böttiger.