Kinderimpfungen gegen Corona - eine Frage der Abwägung Von Gisela Gross und Ulrike von Leszczynski, dpa

Deutschlands oberste Impfexperten haben sich entschieden: Ihre
Impfempfehlung schließt gesunde Kinder und Jugendliche noch nicht mit
ein. Unmöglich macht das eine Impfung aber nicht.

Berlin (dpa) - Was sie sagt, ist für Ärztinnen und Ärzte eine
wichtige Richtschnur: Die Ständige Impfkommission (Stiko) hat in der
Pandemie keine generelle Empfehlung zum Impfen von gesunden Kindern
und Jugendlichen ab 12 Jahren gegeben. Dabei können sie sich
theoretisch schon seit Montag impfen lassen. Wie passt das zusammen?
Fragen und Antworten:

Was empfiehlt die Stiko genau?

Die Stiko empfiehlt, dass nur Kinder und Jugendliche zwischen 12 und
17 Jahren geimpft werden sollen, die bestimmte Vorerkrankungen haben.
Das Gremium nennt rund ein Dutzend Krankheitsbilder, die mit einem
anzunehmenden erhöhten Risiko für einen schweren Covid-19-Verlauf
einhergehen. Darunter sind zum Beispiel Fettleibigkeit, ein schlecht
eingestellter Diabetes, Immunschwächen, bestimmte Herzleiden,
chronische Lungenerkrankungen und chronische Niereninsuffizienz,
bösartige Tumorerkrankungen und Trisomie 21. Außerdem wird die
Impfung Kindern empfohlen, in deren Umfeld Menschen leben, die stark
gefährdet sind, einen schweren Covid-19-Verlauf zu bekommen - und die
zum Beispiel selbst nicht geimpft werden können.

Warum unterscheiden sich die Einschätzungen von Stiko und
EU-Einrichtungen?

Die europäische Arzneimittelbehörde EMA und die EU-Kommission gaben
kürzlich grünes Licht für die Zulassung des
Biontech/Pfizer-Impfstoffs ab zwölf Jahren - die Stiko schränkt
hingegen ein. Das mag verwirrend klingen, hat aber nichts mit
vermeintlich verschiedenen Meinungen zu tun. Die Institutionen haben
unterschiedliche Aufgaben und Blickwinkel. Die EMA ist für die
grundsätzliche Zulassung auf dem europäischen Markt zuständig. Bei
der Stiko geht es darum, den Einsatz des Impfstoffs zum besten Nutzen
der Bevölkerung in Deutschland zu regeln. In anderen Ländern, etwa
mit höheren Fallzahlen oder höheren Anteilen von Kindern an der
Bevölkerung, können die Überlegungen anders aussehen.

Warum will die Stiko bislang keine generelle Impfempfehlung geben?

Stiko-Chef Thomas Mertens verweist auf die geringe Zahl an geimpften
Probanden und eine Nachbeobachtungszeit von nur zwei Monaten für die
Zulassungsstudie. Hinzu kommt: Wenn sich gesunde Kinder mit
Sars-CoV-2 infizieren, haben sie laut Fachleuten ein sehr geringes
Risiko, schwer zu erkranken. Mit anderen Worten: Der Nutzen der
Impfung wiegt möglicherweise ihr Risiko nicht auf.

Rund 80 Kinder und Jugendliche wurden in der Pandemie bislang auf
Intensivstationen in Deutschland behandelt, davon hatten knapp zwei
Drittel Vorerkrankungen. Zum Vergleich: Für Erwachsene mit Covid-19
wurden bislang mehr als 112 000 abgeschlossene Intensiv-Behandlungen
erfasst.

Kann man ein gesundes Kind jetzt dennoch impfen lassen?

Ja. So hatte es Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bereits
angekündigt, ohne die Empfehlung der Stiko abzuwarten. Die Stiko hat
nun auch nichts gegen ein Modell, bei dem Ärzte Eltern und ihre
Kinder beraten. Laut Spahn ist es dann eine individuelle
Entscheidung. Der Termin für einen Piks hängt aber wie in anderen
Altersgruppen auch von der Verfügbarkeit vom Impfstoff ab. Die Stiko
hält hier an ihrer Priorisierung für besonders gefährdete Menschen
fest. Dazu zählen Kinder und Jugendliche ohne Vorerkrankungen nicht.

Welche Nebenwirkungen hat die Impfung?

Insgesamt bewerten die Autoren einer Studie im «New England Journal
of Medicine» die Impfung für die Kinder als gut verträglich, die
Impfreaktionen seien überwiegend mild bis moderat gewesen. Ähnlich
wie in anderen Altersgruppen klagten die Kinder am häufigsten über
Schmerzen an der Einstichstelle (79 bis 86 Prozent der Kinder nach
der ersten, beziehungsweise zweiten Dosis), Müdigkeit (60 bis 66
Prozent) und Kopfschmerzen (55 bis 65 Prozent). Etwa 20 Prozent
bekamen nach der zweiten Impfung Fieber. Die Beschwerden verschwanden
meist innerhalb von wenigen Tagen. Rund die Hälfte der Kinder (50,8
Prozent) nahm nach der zweiten Spritze ein Mittel gegen Fieber und
Schmerzen ein. Schwere unerwünschte Wirkungen wie Thrombosen oder
einen anaphylaktischen Schock habe es im Zusammenhang mit der Impfung
nicht gegeben, berichten die Wissenschaftler. Allerdings lässt die
geringe Gesamtzahl von 1131 Geimpften nur bedingt Rückschlüsse über
seltene Nebenwirkungen zu.

Was kann für eine Impfung eines gesunden Kindes sprechen?

«Aus Elternperspektive wäre mein Kind geimpft. Klarer Fall. Dieses
Risiko möchte ich nicht», sagte der Charité-Virologe Christian
Drosten kürzlich dem Schweizer Online-Magazin «Republik». Er
argumentiert mit Langzeitfolgen wie Geruchs- und Geschmacksverlust
und Müdigkeit bei einem kleinen Teil der Betroffenen und dem Risiko
des sogenannten Pädiatrischen Multisystem-Inflammationssyndroms. Dies
ist eine schwere Erkrankung Wochen nach der Infektion, die bisher
aber als selten und gut behandelbar gilt.

Von Langzeitfolgen (Long Covid/Post Covid) betroffen sind nach
Schilderungen von Ärzten eher Jugendliche als kleine Kinder. Solche
länger anhaltenden Einschränkungen kennen Mediziner auch von anderen
Virusinfektionen wie dem Pfeifferschem Drüsenfieber. Auch die
Pandemie mit Lockdown als Stressfaktor an sich spielt aber wohl eine
Rolle: «Wenn sich die Pandemiesituation bessert, dürften zumindest
bei einem Teil der Betroffenen auch die Ermüdungsanzeichen besser
werden», hatte Markus Hufnagel vom Zentrum für Kinder- und
Jugendmedizin der Universitätsklinik Freiburg im Frühjahr gesagt.

Welche Bedeutung hat eine Stiko-Empfehlung?

Was die Stiko nach Aufarbeitung wissenschaftlicher Daten empfiehlt,
gilt in Deutschland als medizinischer Standard. Normalerweise ist ihr
Urteil wichtig für Fragen der Haftung und der Kostenübernahme durch
die gesetzlichen Krankenkassen. Bei der Corona-Impfkampagne ist dies
aber ohnehin über den Bund geregelt. Formal sei das Impfen auch ohne
Stiko-Empfehlung möglich, es widerspreche aber «einer seit jeher
etablierten Praxis», erklärte die Deutsche Gesellschaft für
Allgemeinmedizin und Familienmedizin kürzlich. Beklagt wurde ein
Vertrauensverlust durch «das Vorpreschen einiger politischer
Entscheidungsträger». In einer weiteren Stellungnahme stärkten 30
medizinische Fachgesellschaften ebenfalls der Stiko den Rücken.
Einige sehen es aber auch nur als einen Schritt in der Impfdynamik
der Pandemie. Sobald es mehr Daten gebe, könnten sich Empfehlungen
wieder ändern.

Gibt es überhaupt schon genügend Impfstoff für Kinder?

Die streng festgelegte Reihenfolge bei der Corona-Impfung ist seit
diesem Montag bundesweit aufgehoben. Mit dem Ende der sogenannten
Priorisierung haben alle ab zwölf Jahren nun zumindest theoretisch
die Möglichkeit, einen Impftermin zu bekommen. Impfstoffe sind aber
weiter rar, speziell für Kinder reservierte Dosen gibt es nicht. Für
mehrere Experten ein Argument, mit dem Immunisieren gesunder Kinder
zu warten: Es gebe noch zu viele gefährdete Erwachsene ohne Impfung.

Werden Impfungen aller Kinder zwingend für Herdenimmunität gebraucht?

Das hängt auch von der weiteren Entwicklung der Pandemie und der
Impfbereitschaft unter Erwachsenen ab. Minderjährige haben in
Deutschland einen Anteil von 16,4 Prozent an der Bevölkerung. Für
Kinder unter zwölf Jahren ist bisher aber gar kein Impfstoff
zugelassen. Als Schwelle für den weitgehenden Verzicht auf Maßnahmen
und Regeln müssen laut RKI mehr als 80 Prozent der Bevölkerung immun
sein, entweder durch eine vollständige Impfung oder eine
durchgemachte Infektion plus Impfung. Sollte sich eine ansteckendere
Virusvariante durchsetzen, könnten noch mehr Immune nötig sein.
Bislang hat rund die Hälfte der Menschen im Land noch nicht einmal
eine erste Dosis bekommen.

Im Gegensatz zur Situation bei der Grippe gelten Kita- und
Grundschulkinder bislang nicht als besondere Treiber der Pandemie.
Manche Fachleute äußerten auch die Hoffnung auf abschirmende Effekte
durch hohe Impfquoten bei Erwachsenen. Ob dies aber für einen
normalen Schulbetrieb im Herbst und Winter ausreicht, ist die große
Frage.