Gewalt vertreibt Tausende in Haiti - auch Corona-Lage wird kritisch

Bisher schien Haiti die Corona-Krise relativ gut zu überstehen - das
wäre ein seltener Glücksfall für das krisengebeutelte Land gewesen.
Nun kommt es aber doppelt schlimm: Eine Corona-Welle überfordert das
Gesundheitssystem und ein Bandenkrieg spitzt sich zu.

Port-au-Prince (dpa) - Inmitten einer schweren Corona-Welle ist in
Haitis Hauptstadt Port-au-Prince die Bandengewalt eskaliert und hat
Tausende Menschen in die Flucht getrieben. Es habe insbesondere seit
dem 1. Juni zahlreiche Tote und Verletzte gegeben, teilte die
UN-Agentur zur Koordinierung humanitärer Hilfe (Ocha) mit. Der
Bürgermeister des Vorortes Carrefour, Jude Édouard Pierre, warnte am
Mittwoch im Sender Radio Métropole, dass seine Gemeinde die vielen
dorthin geflüchteten Menschen nicht mehr ernähren könne.

Hunderte Wohnhäuser und kleine Geschäfte seien in Brand geraten, hieß

es von Ocha. Hintergrund sind demnach Kämpfe zwischen Banden um
Kontrolle über Stadtgebiete. Die Polizei sei nicht in der Lage, für
Sicherheit und Schutz zu sorgen. Es ist in dem Karibikstaat ein
offenes Geheimnis, dass Politiker sich mit gewalttätigen Gangs
verbünden, die Teile des Landes kontrollieren.

Nach ersten Schätzungen gibt es nach den UN-Angaben 5600 Vertriebene.
Viele Menschen, darunter Kinder, seien in weniger gefährliche
Stadtteile geflüchtet und schliefen nun im Freien auf der Erde oder
hätten in behelfsmäßigen Unterkünften - etwa in Kirchen und in eine
r
Sporthalle - Zuflucht gesucht. Sie bräuchten dringend humanitäre
Hilfe, darunter Essen und Trinkwasser. In den betroffenen Gegenden
selbst behinderten Gewalt und Straßenblockaden den Menschen- und
Warenverkehr - und auch Hilfslieferungen.

Haiti gilt als ärmstes Land der westlichen Hemisphäre. Vor kurzem
warnte das UN-Kinderhilfswerk Unicef, dass dort ohne dringende Hilfe
in diesem Jahr voraussichtlich 86 000 Kinder im Alter von weniger als
fünf Jahren an schwerer akuter Unterernährung leiden würden.

Auch stiegen zuletzt die Corona-Fälle. Das ohnehin überstrapazierte
Gesundheitssystem stößt damit schnell an seine Grenzen. In der Klinik
der St.-Luke-Stiftung in Port-au-Prince, dessen Großraum Schätzungen
zufolge mehr als 2,5 Millionen Einwohner hat, gibt es 115 Betten für
Patienten mit Covid-19 - und damit einen Großteil der Gesamtzahl in
der Stadt. Vergangene Woche teilte die Stiftung mit, das Krankenhaus
sei voll. «Viele Menschen sterben bei der Ankunft in Krankenwagen».

Wegen gestiegener Sauerstoffpreise müsse zudem möglicherweise die
Kapazität der Klinik reduziert werden, hieß es. Und: «Wir haben vie
le
Nonnen als Patienten bekommen. Ein sicheres Zeichen, dass Covid in
den ärmsten Gegenden ist.»

Die offiziellen Corona-Zahlen waren in Haiti bisher vergleichsweise
gering - obwohl viele Menschen dort dicht gedrängt und unter
schlechten hygienischen Bedingungen leben. Bisher sind es rund 16 000
Infektionen und 342 Todesfälle. Die Pro-Kopf-Sterberate wäre eine der
niedrigsten der Welt. Es wird allerdings äußerst wenig getestet.

Viele nahmen die Pandemie daher aber lange nicht ernst. Die Regierung
lehnte im April sogar eine Lieferung des Astrazeneca-Impfstoffs mit
der Begründung ab, die Bevölkerung würde diesen wegen der in Europa
festgestellten Thrombosefälle vielleicht nicht annehmen. Haiti gehört
zu den wenigen Ländern, die bisher überhaupt keine Vakzine haben. Nun
wurde ein für den 27. Juni geplantes Verfassungsreferendum wegen der
Corona-Lage auf unbestimmte Zeit verschoben. Das könnte eine
bestehende Regierungskrise verschlimmern und zu mehr Gewalt führen.