«Fackel der Hoffnung» oder «nicht normal»: Tokio-Spiele im Zwiespal t Von Christian Hollmann, dpa

Die Debatte um die Olympischen Spiele in Tokio will auch auf den
letzten Metern vor dem Start nicht verstummen. Die Folgen der
Pandemie sind das stärkste Argument gegen eine Austragung - aber es
gibt auch gute Gründe für Olympia in diesem Sommer.

Tokio (dpa) - Das Risiko-Projekt Olympia steckt auch sechs Wochen vor
Eröffnung der Sommerspiele in Tokio tief im Zwiespalt. Die ersten
Athleten sind schon in Japan eingetroffen, doch die Gastgeberstadt
ist immer noch im Corona-Notstand. Olympia-Macher und viele Sportler
sehnen den Start der Wettkämpfe herbei, die Mehrheit der Japaner
fordert weiter eine Verschiebung oder Absage. Die große Frage bleibt
die gleiche: Was spricht eigentlich für die Spiele und was dagegen?

PRO OLYMPIA

SIGNALWIRKUNG: «Die Fackel der Hoffnung» und «das Licht am Ende des
Tunnels» - so nannten IOC-Chef Thomas Bach und die Organisatoren
immer wieder die Tokio-Spiele. Das große Sportfest mit Athleten aus
aller Welt soll ein Zeichen sein, dass die Pandemie überwunden ist.
Derart aufgeladen wäre eine erneute Verlegung oder gar der Verzicht
auf Olympia eine Niederlage mit bitterster Symbolkraft.

ATHLETENZIEL: Die jüngsten Qualifikationswettbewerbe haben gezeigt,
wie sehr Olympia viele Sportler auch in diesen Zeiten anzieht und wie
groß die Freude über ein gelöstes Ticket ist. «Mein Leben hat sich

gelohnt, das Lebensziel ist erreicht», sagte Stabhochspringer Oleg
Zernikel, als er sich am Wochenende für Tokio qualifizierte. So
ähnlich geht es vielen Leistungssportlern, die seit Jahren auf
Olympia hintrainieren und schon durch die Verschiebung hart getroffen
wurden. Eine Absage könnte so manchen um die einzige Chance auf eine
Spiele-Teilnahme bringen.

CORONA-BLASE: Eine Reihe internationaler Sportereignisse und mehrere
Testwettkämpfe in Tokio haben gezeigt, dass sichere Spiele möglich
sind. Der Aufwand, der dafür getrieben wird, ist enorm. Wenig
Bewegungsfreiheit und häufige Corona-Tests für alle Teilnehmer,
strenge Hygieneregeln im olympischen Dorf und den Arenen, der
Ausschluss ausländischer Besucher - die Maßnahmen sind weitreichend.
Zudem werden laut Internationalem Olympischen Komitee mehr als 80
Prozent der Bewohner des Athletendorfes bereits geimpft sein.

FINANZEN: Die Olympia-Macher rechnen offiziell mit Ausgaben von rund
12,7 Milliarden Euro. Viel von diesem Geld ist bereits ausgegeben und
wäre bei einer Absage verloren. Olympia-Ministerin Tamayo Marukawa
warnte, dass sich eine Sicherstellung der Wettkampfstätten und
Unterkünfte im Fall einer erneuten Verschiebung schwierig gestalten
würde. Für das IOC hängen Milliarden vom Fernsehen und den Sponsoren

an den Spielen. Fließt dieses Geld nicht, könnten internationale
Verbände und Nationale Olympische Komitees in Not geraten, weil sie
anteilig von den IOC-Einnahmen profitieren. Ob und in welcher Höhe
Versicherungen einspringen würden, ist unklar. Auch viele Athleten
hätten Einbußen, weil mögliche Prämien und Werbeverträge ausbleib
en.

POLITISCHE DIMENSION: Für Japans Führung wäre eine Absage eine
Schmach. Zum einen hat Ministerpräsident Yoshihide Suga bisher stur
am Prestigeprojekt Olympia festgehalten, weil er sich auch Rückenwind
für die Wahlen im Herbst erhofft. Zum anderen wäre im Fall einer
Absage ausgerechnet Erzrivale China mit den Winterspielen in Peking
2022 anstelle von Japan erster Olympia-Gastgeber nach der Pandemie.

KONTRA OLYMPIA:

SUPERSPREADER: Japans wichtigster Corona-Regierungsberater Shigeru
Omi brachte es auf den Punkt: «Es ist in der gegenwärtigen Situation
nicht normal, die Spiele auszurichten.» Wie viele seiner Kollegen
hält es der Mediziner für hochriskant, rund 78 000 Ausländer währen
d
einer Pandemie für Olympia und Paralympics einreisen zu lassen. Es
droht die Verbreitung des Virus und sogar das Entstehen neuer
Mutanten, die dann mit den Gästen die Rückreise in viele Länder
antreten könnten. Japans Gesundheitssystem ist seit Monaten am Limit,
die Impfquote sehr niedrig. Der seit Ende April geltende dritte
Notstand für Tokio gilt noch bis mindestens 20. Juni. Ein Sportfest
als Corona-Beschleuniger braucht da eigentlich niemand.

ANTI-STIMMUNG: Die Umfragen in Japan ergeben seit Monaten stabil eine
überwiegende Ablehnung der Sommerspiele. Im Mai unterschrieben mehr
als 350 000 Japaner eine Petition gegen Olympia. Rund 10 000
freiwillige Helfer zogen bereits ihre Bereitschaft zum Einsatz bei
den Spielen zurück. Auch eine Reihe von Städten, die als
Trainingsquartiere eingeplant waren, hat sich abgemeldet. Derzeit
wirkt es so, als finde Olympia gegen den Willen der Gastgeber statt.

OHNE SEELE: Ein Fest der Völker, eine brodelnde Stätte
internationaler Begegnungen - so ist Olympia im besten Falle. In
Tokio wird wenig davon übrig bleiben. Ausländische Fans, ja sogar
viele Athletenfamilien bleiben ausgesperrt. Die Sportler sollen sich
höchstens mit Abstand treffen, sonst in ihren eigenen Teil-Blasen
bleiben und sich so kurz wie möglich in Japan aufhalten. Die
Medaillenjagd wird zum aseptischen TV-Event - ist das wirklich noch
der olympische Geist?

UNGLEICHE CHANCEN: Der Kampf um die Corona-Impfung tobte auch in der
Athleten-Welt. Nicht jeder wird rechtzeitig vor Tokio den Piks
bekommen, gerade ärmere Nationen könnten im Nachteil sein. Und bei
einigen, die erst spät geimpft wurden, brachten die Wirkungen des
Vakzins die Vorbereitung durcheinander. Auch beim Thema Doping könnte
Corona Effekte haben, weil über mehrere Monate kaum getestet werden
konnte. So mancher Sportbetrüger könnte sich das zunutze gemacht
haben, auch wenn die Dopingjäger das hohe Niveau des vorolympischen
Kontrollprogramms loben.