Streit um Bundes-Notbremse - Intensivstationen melden Engpässe Von Basil Wegener, Martina Herzog und Jörg Ratzsch, dpa

Widerstand gegen geplanten Ausgangsbeschränkungen - Unterstützung für

durchgreifende Maßnahmen: Die geplante Bundes-Notbremse löst eine
Kontroverse aus. Unterdessen müssen Intensivpatienten bereits aus bis
zum Anschlag belasteten Regionen ausgeflogen werden.

Berlin (dpa) - Mit einem hitzigen Schlagabtausch hat der Bundestag
die Beratungen über die geplante bundesweite Corona-Notbremse
begonnen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) rief zur Eile auf.
«Jeder Tag früher, an dem die Notbremse bundesweit angewandt ist, ist
ein gewonnener Tag», sagte Merkel am Freitag im Plenum. Auf den
Intensivstationen gibt es bereits Engpässe etwa in Köln, Bremen,
Berlin, in Thüringen und Sachsen. Patientinnen und Patienten werden
in andere Regionen ausgeflogen, wie die Intensivmediziner-Vereinigung
DIVI in einer Expertenanhörung des Bundestags zu dem geplanten Gesetz
mitteilte.

Eine generelle Ablehnung der Bundespläne signalisierten die AfD und
die Linke. Die FDP hält ein bundesweites Vorgehen für nötig, droht
aber trotzdem mit Verfassungsklage wegen den geplanten
Ausgangsbeschränkungen ab 21.00 Uhr. Unterdessen wurden 25 831 neue
Coronafälle gemeldet. Die Zahl der auf Intensivstationen versorgten
Covid-19-Patientinnen und -patienten stieg um 61 auf 4740.

Merkel sagte: «Das Virus verzeiht keine Halbherzigkeiten, sie machen
alles nur noch schwerer. Das Virus verzeiht kein Zögern, es dauert
alles nur noch länger. Das Virus lässt nicht mit sich verhandeln, es
versteht nur eine einzige Sprache, die Sprache der Entschlossenheit.»
Im Bundestag wird nun fieberhaft über Details des geplanten Gesetzes
verhandelt. Am Mittwoch soll es beschlossen werden. Kurz darauf soll
der Bundesrat sein Votum abgeben. Kontaktbeschränkungen zum Brechen
der dritten Welle sollen in Kreisen und Städten ab einer Inzidenz von
100 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohnern in einer Woche greifen.
Zuletzt lagen rund 350 von mehr als 400 Kreisen über dieser Schwell
e.

«Die Intensivmediziner senden einen Hilferuf nach dem anderen - wer
sind wir denn, wenn wir diese Notrufe überhören würden?», so Merkel
.
Die Notbremse solle die drohende Überlastung des Gesundheitswesens
verhindern. Dann könnten mit systematischem Testen bei niedrigeren
Inzidenzen Öffnungen ermöglicht werden. Mit Blick auf den
Frühjahrs-Lockdown 2020 sagte Merkel: «Wir haben es doch schon einmal
geschafft, wir können es jetzt wieder schaffen.»

Trotz kritischer Haltung sagte FDP-Chef Christian Lindner: «Es ist
richtig, dass nun bundeseinheitlich gehandelt wird.»
AfD-Fraktionschefin Alice Weidel hingegen sprach von einem Angriff
auf Grund- und Freiheitsrechte. «Sie misstrauen den Bürgern, deshalb
wollen Sie sie tagsüber gängeln und nachts einsperren», sagte Weidel.

Linksfraktionschef Dietmar Bartsch warf der Regierung Scheitern vor.
«Wir haben seit November einen permanenten Halb-Lockdown, und Sie
sind immer nach der Welle.» Bartsch stellte raschere Fortschritte
beim Impfen wie in den USA und eine nationale Teststrategie als
Lösungen dagegen. Koalitionsabgeordnete unterstützten das Gesetz.

AUSGANGSBESCHRÄNKUNGEN - WIE WEITGEHEND?

Mit Blick auf die geplanten Ausgangsbeschränkungen kündigte Lindner
Vorschläge an, das Gesetz «verfassungsfest» zu machen. Die FDP werde

vors Bundesverfassungsgericht ziehen, wenn darauf nicht eingegangen
werde. Bisher sei geplant, «dass ein geimpftes Ehepaar (...) daran
gehindert wird, alleine nach 21 Uhr vor die Tür zu treten zum
Abendspaziergang». Merkel verteidigte die Pläne. Andere Staaten
hätten solche Maßnahmen «zum Teil erheblich restriktiver»
praktiziert. «Es geht darum, abendliche Besuchsbewegungen von einem
Ort zum anderen - im Übrigen auch unter Benutzung des öffentlichen
Personennahverkehrs - zu reduzieren.» Die Vorteile überwögen.
SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach sagte: «Es wird alleine nicht
reichen, aber in keinem Land ist es gelungen, eine Welle mit Variante
B.1.1.7 noch einmal in den Griff zu bekommen, ohne dass man nicht
auch das Instrument der Ausgangsbeschränkung, und nicht -sperre,
genutzt hätte.»

Rechtswissenschaftler bewerten nächtliche Ausgangsbeschränkungen
unterschiedlich. In der Bundestagsanhörung waren die Juristen dazu
unterschiedlicher Meinung. Nach Einschätzung des Berliner Physikers
Kai Nagel kann so eine Beschränkung die Verbreitung des Coronavirus
spürbar reduzieren. Aber statt abends Ausgänge pauschal zu verbieten,
plädierte Nagel in der Anhörung dafür, nur den Ausgang für private

Besuche in Innenräumen zu verbieten - dafür rund um die Uhr.
Hintergrund ist das weit höhere Infektionsrisiko drinnen. Die
rheinland-pfälzische Landeshauptstadt Mainz setzte eine abendliche
Ausgangssperre aus, nachdem das Verwaltungsgericht in einem
Eilverfahren die aufschiebende Wirkung angeordnet hatte.

STREIT UM SCHULE:

Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt sagte: «Erst ab einer
Inzidenz von 200 zu handeln, ist zu spät», das sei kein Schutz für
Schüler und Schülerinnen und kein Schutz für Eltern. Geplant ist,
dass Schulen in Kreisen und Städten mit über 200
Corona-Neuinfektionen pro Woche und 100 000 Einwohnern keinen
Präsenzunterricht mehr anbieten. Ab einer Inzidenz von 100 soll es
bei Präsenzunterricht zwei Corona-Tests pro Woche geben. «Wir wissen,
dass die Mutation jetzt sehr stark Kinder betrifft, dass die Kinder
ihre Eltern anstecken», sagte Göring-Eckardt. Die Grünen wollten
entsprechende Nachbesserungen. Zugleich kritisierte sie, dass das
Gesetz nicht schneller als geplant auf den Weg gebracht werden soll.

VORGEHEN DER LÄNDER:

In Mecklenburg-Vorpommern und Baden-Württemberg soll die
Corona-Notbremse schon ab Montag gelten. In einigen Bundesländern
gelten schon strengere Regeln, die denen der Notbremse meist mit
wenigen Ausnahmen entsprechen - so etwa in Bayern, Rheinland-Pfalz,
Brandenburg und Schleswig-Holstein. Die Staatskanzleien in Hessen und
im Saarland haben bislang noch keine Verschärfung der aktuell
geltenden Maßnahmen geplant.

NICHT NUR FRUST:

In der Pandemie hat sich die Lebenszufriedenheit vieler Bürger einer
Umfrage zufolge in einigen Bereichen verbessert. So schätzen
zahlreiche Erwachsene ihre Gesundheit wie ihren Schlaf als deutlich
besser ein, wie Daten des «Sozio-oekonomischen Panels» mit mehr als
6500 Menschen zeigen, die im April und Juni 2020 sowie Januar 2021
befragt wurden. Einbußen gibt es demnach bei Freizeit und
Familienleben. Der Philosoph Richard David Precht wies auf die
überschaubare Dauer der geplanten Grundrechtseinschränkungen
hin: «Ich habe keine Befürchtungen, dass hier maßlos überreagiert

wird oder die Grundrechtseinschränkungen nicht sofort wieder
rückgängig gemacht werden, sowie wir aus dem Gröbsten der Pandemie
raus sind», sagte er der «Augsburger Allgemeinen».