Innehalten für die Verstorbenen in der Corona-Pandemie Von Ulrich Steinkohl, dpa

Fast 80 000 Tote - so viele Opfer beklagt Deutschland schon in der
Corona-Pandemie. Ihrer soll jetzt in einer nationalen Veranstaltung
gedacht werden. Der Bundespräsident will den Blick nicht nur auf
diejenigen richten, die an den Folgen des Virus gestorben sind.

Berlin (dpa) - Es soll ein Moment des Innehaltens im Corona-Alltag
von Inzidenzwerten, Lockdown-Debatte und Impfkampagne werden. An
diesem Sonntag will Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier all denen
ein Gesicht und eine Stimme geben, die in diesem Alltag allzu oft zu
kurz kommen: die Verstorbenen und ihre Angehörigen. 79 628 Leben hat
die Pandemie bis zum Freitag schon gekostet - «eine erschütternde,
verstörende Dimension», hatte Steinmeier bereits Anfang März in einem

Gespräch mit Hinterbliebenen gesagt, als die Zahl der Toten noch um
einige Tausend niedriger lag.

So werden an diesem Sonntag die Spitzen der fünf Verfassungsorgane
als höchste Repräsentanten des Staates zusammenkommen - erst zu einem
ökumenischen Gottesdienst in der Berliner Gedächtniskirche und später

zur eigentlichen Gedenkveranstaltung im Konzerthaus am
Gendarmenmarkt. Es wird ein Gedenken im kleinsten Kreis werden,
zusammen mit fünf Menschen, die während der Pandemie Angehörige
verloren haben. Das ist der Infektionslage geschuldet und steht
zugleich sinnbildlich für die Einsamkeit, in der während der Pandemie
viele Menschen sterben und in der ihre Angehörigen oft genug zurück
bleiben.

Aus Sicht des Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche (EKD) in
Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, ist dieses Gedenken des Staates
unverzichtbar. «Die Sterbezahlen sind so dramatisch, dass wir genau
das jetzt brauchen. Hier trauert eine ganze Gesellschaft um viel zu
viele Tote, das verdient öffentliche Anteilnahme», sagt der
Landesbischof im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur.

Trauer sei nicht nur etwas Privates. «Es gibt auch so etwas wie
öffentliche Seelsorge.» Genau diese sei nun notwendig. «Es spielt
eine große Rolle, ob Menschen, die trauern, das Gefühl haben, dass
sie von einer Gemeinschaft getragen sind, vielleicht sogar von der
Gemeinschaft eines ganzen Landes. Wir wissen als Kirche sehr genau,
wie wichtig dieses Getragensein durch das Gebet und die Anteilnahme
anderer Menschen ist.»

In den zurückliegenden Monaten hätten Inzidenzwerte, virologische
Befunde und praktische Fragen des Alltags im Vordergrund gestanden,
sagt Bedford-Strohm. «Aber was dieses Virus mit der Seele macht, das
hat viel zu wenig öffentliche Beachtung gefunden.» Deshalb sei es gut
und wichtig, dass jetzt das Thema Sterben und Tod ins Zentrum gerückt
werde. «Und es ist einfach so, dass dazu öffentliche Akte ein
wichtiger Ort sind.» Der EKD-Ratsvorsitzende wird zusammen mit dem
Vorsitzenden der Katholischen Bischofskonferenz, Bischof Georg
Bätzing, den ökumenischen Gottesdienst vor der Gedenkfeier halten.

Ein öffentlicher Akt - der Bundespräsident versteht ihn als Angebot
an die Gesellschaft, wohl wissend, dass sich Trauer, Mitgefühl und
Empathie nicht staatlich verordnen lassen. Und dass mit einem
Gedenkakt allein nicht zu bewältigen ist, was Corona für den
Einzelnen und die Gesellschaft bewirkt. Dieser Akt soll nicht nur an
die Verstorbenen erinnern und ihren Angehörigen Trost geben.
Steinmeier will den Bogen weiter spannen. Er spricht bewusst nicht
von den Verstorbenen oder Opfern der Pandemie, sondern in der
Pandemie. Aus seiner Sicht geht es darum, in Würde auch von jenen
Abschied zu nehmen, «die nicht dem Virus zum Opfer gefallen sind,
aber genauso einsam gestorben sind», wie er bei dem Gespräch mit
Hinterbliebenen sagte.

Steinmeier will, so hieß es vorab aus dem Präsidialamt, auch auf das
Schicksal jener hinweisen, die - ohne infiziert worden zu sein -
durch das Virus und seine Bekämpfung Schaden genommen haben. Die
beispielsweise durch Isolation und Einsamkeit erkrankt sind oder die
Opfer von häuslicher Gewalt und Missbrauch wurden. Nicht zuletzt will
er an die Ärzte und Pfleger erinnern, die Tag und Nacht um das Leben
ihrer Patienten gekämpft haben. Und noch immer kämpfen. Und die
gerade an den Rand der Überforderung geraten, weil sich die
Intensivstationen rasend schnell mit schwer kranken Patienten füllen.

Der Moment des Innehaltens, um den es Steinmeier geht, er soll
möglichst das ganze Land erfassen. Gottesdienst und Gedenkakt werden
live in ARD und ZDF übertragen. In vielen Kommunen sind kleinere
Gedenkveranstaltungen geplant. Bundesweit werden am Sonntag die
Flaggen an öffentlichen Gebäuden auf Halbmast gesetzt sein. Und die
Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten aller 16 Länder riefen

ihre Bürger am Freitag dazu auf, bis einschließlich sonntagabends
eine Kerze ins Fenster zu stellen. Diese Form des Gedenkens unter dem
Hashtag «#lichtfenster» geht ebenfalls auf Steinmeier zurück.