Kontroverse im Parlament um Bundes-Notbremse Von Martina Herzog, Basil Wegener und Jörg Ratzsch, dpa

Es gibt Streit um den Pandemiekurs der Regierung und Zweifel an den
geplanten Ausgangsbeschränkungen. Doch auch Teile der Opposition
wollen jetzt handeln.

Berlin (dpa) - Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat zur Eile bei
der geplanten bundesweiten Corona-Notbremse aufgerufen. «Jeder Tag
früher, an dem die Notbremse bundesweit angewandt ist, ist ein
gewonnener Tag», sagte Merkel mit Blick auf die drohende Überlastung
der Krankenhäuser am Freitag in der ersten Beratung des Bundestags.
Eine hitzige Debatte entzündete sich an den geplanten
Ausgangsbeschränkungen ab 21 Uhr. Eine generelle Ablehnung der Pläne
signalisierten die AfD und die Linke, wenngleich auch die FDP mit
Verfassungsklage drohte. Unterdessen wurden 25 831 neue Coronafälle
gemeldet.

Merkel sagte: «Das Virus verzeiht keine Halbherzigkeiten, sie machen
alles nur noch schwerer. Das Virus verzeiht kein Zögern, es dauert
alles nur noch länger. Das Virus lässt nicht mit sich verhandeln, es
versteht nur eine einzige Sprache, die Sprache der Entschlossenheit.»
Im Bundestag wird nun fieberhaft über Details des geplanten Gesetzes
verhandelt. Am Mittwoch soll es beschlossen werden. Kurz darauf soll
der Bundesrat sein Votum abgeben. Kontaktbeschränkungen zum Brechen
der dritten Welle sollen in Kreisen und Städten ab einer Inzidenz von
100 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohnern in einer Woche greifen. Am
Donnerstag hatten 351 von 412 Kreise die Schwelle überschritten.

«Die Intensivmediziner senden einen Hilferuf nach dem anderen - wer
sind wir denn, wenn wir diese Notrufe überhören würden?», so Merkel
.
Die Ärztinnen und Ärzte und Pflegekräfte könnten den Kampf alleine

nicht gewinnen. Merkel ordnete das Gesetz als Schritt in Richtung
Überwindung der Pandemie ein. «Die Notbremse ist also das Instrument,
die drohende Überlastung unseres Gesundheitswesens zu verhindern.
Systematisches Testen ist das Mittel bei niedrigeren Inzidenzen,
konsequente, nachhaltige Öffnungen zu ermöglichen. Impfen ist der
Schlüssel, die Pandemie zu überwinden.»

Mit Blick auf den Frühjahrslockdown 2020 sagte Merkel: «Wir haben es
doch schon einmal geschafft, wir können es jetzt wieder schaffen.»
Die Politik mache es den Bürgerinnen und Bürgern nicht leicht. Die
übergroße Mehrheit der Menschen in Deutschland helfe aber bereits
unverändert durch Einhaltung der Schutzmaßnahmen mit.

Trotz kritischer Haltung versicherte auch FDP-Chef Christian Lindner
der Koalition Zustimmung für eine größere Rolle des Bundes. «Es ist

richtig, dass nun bundeseinheitlich gehandelt wird», sagte er.
AfD-Fraktionschefin Alice Weidel hingegen sprach von einem Angriff
auf Grund- und Freiheitsrechte. «Sie misstrauen den Bürgern, deshalb
wollen Sie sie tagsüber gängeln und nachts einsperren», sagte Weidel.

Die Regierung nutze die Corona-Krise, um sonst unmögliche Eingriffe
durchzusetzen. Weidel sprach von «Notstandsgesetzgebung durch die
Hintertüre». Grüne und Linke warfen der Regierung außerdem vor, das

Wirtschaftsleben in dem Gesetz nicht ausreichend zu berücksichtigen.
In der Wirtschaft gebe es faktisch null Beschränkung, kritisierte der
Linken-Politiker Klaus Ernst.

Linksfraktionschef Dietmar Bartsch warf der Regierung Scheitern vor.
«Wir haben seit November einen permanenten Halb-Lockdown, und Sie
sind immer nach der Welle.» Bartsch stellte raschere Fortschritte
beim Impfen wie in den USA und eine nationale Teststrategie als
Lösungen dagegen. Unionsfraktionsvize Thorsten Frei (CDU) entgegnete:
«Das ist an Linkspopulismus nicht zu überbieten.»

Auch mehrere andere Abgeordnete der Koalition betonten, das Gesetz
sei wichtig.

AUSGANGSBESCHRÄNKUNGEN - WIE WEITGEHEND?

Mit Blick auf die geplanten Ausgangsbeschränkungen kündigte Lindner
Vorschläge an, das Gesetz «verfassungsfest» zu machen. Die FDP werde

vors Bundesverfassungsgericht ziehen, wenn auf die Bedenken nicht
eingegangen werde. Bisher sei geplant, «dass ein geimpftes Ehepaar
aufgrund eines Ausbruchs kilometerweit entfernt in einem einzelnen
Betrieb daran gehindert wird, alleine nach 21 Uhr vor die Tür zu
treten zum Abendspaziergang». Merkel verteidigte die Pläne. Andere
Staaten hätten solche Maßnahmen «zum Teil erheblich restriktiver»

praktiziert. «Es geht darum, abendliche Besuchsbewegungen von einem
Ort zum anderen - im Übrigen auch unter Benutzung des öffentlichen
Personennahverkehrs - zu reduzieren.» Die Vorteile überwögen.

SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach sagte: «Es wird alleine nicht
reichen, aber in keinem Land ist es gelungen, eine Welle mit Variante
B.1.1.7 noch einmal in den Griff zu bekommen, ohne dass man nicht
auch das Instrument der Ausgangsbeschränkung, und nicht -sperre,
genutzt hätte.»

Die rheinland-pfälzische Landeshauptstadt Mainz setzte eine
abendliche Ausgangssperre aus, nachdem das Verwaltungsgericht in
einem Eilverfahren die aufschiebende Wirkung angeordnet hatte.
Nordrhein-Westfalens Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) ist
gegen Ausgangsbeschränkungen und für mehr Tests, wie er im WDR sagte.

STREIT UM SCHULE:

Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt sagte: «Erst ab einer
Inzidenz von 200 zu handeln, ist zu spät», das sei kein Schutz für
Schüler und Schülerinnen und kein Schutz für Eltern. Geplant ist,
dass Schulen in Kreisen und Städten mit über 200
Corona-Neuinfektionen pro Woche und 100 000 Einwohnern keinen
Präsenzunterricht mehr anbieten. Ab einer Inzidenz vom 100 soll es
bei Präsenzunterricht zwei Corona-Tests pro Woche geben. «Wir wissen,
dass die Mutation jetzt sehr stark Kinder betrifft, dass die Kinder
ihre Eltern anstecken», sagte Göring-Eckardt. Die Grünen wollten
entsprechende Nachbesserungen. Zugleich kritisierte sie, dass das
Gesetz nicht schneller als geplant auf den Weg gebracht werden soll.

NICHT NUR FRUST:

In der Pandemie hat sich die Lebenszufriedenheit vieler Bürger einer
Umfrage zufolge in einigen Bereichen verbessert. So schätzen
zahlreiche Erwachsene ihre Gesundheit wie ihren Schlaf als deutlich
besser ein, wie Daten des «Sozio-oekonomischen Panels» mit mehr als
6500 Menschen zeigen, die im April und Juni 2020 sowie Januar 2021
befragt wurden. Etwa Anfahrtswege zur Arbeit entfielen. Einbußen gibt
es demnach bei Freizeit und Familienleben.

Der Philosoph Richard David Precht wies auf die überschaubare Dauer
der geplanten Grundrechtseinschränkungen hin: «Ich habe keine
Befürchtungen, dass hier maßlos überreagiert wird oder die
Grundrechtseinschränkungen nicht sofort wieder rückgängig gemacht
werden, sowie wir aus dem Gröbsten der Pandemie raus sind», sagte er
der «Augsburger Allgemeinen».