Ruf nach Sofort-Lockdown wird lauter Von Basil Wegener, Ulrike von Leszczynski und Jörg Ratzsch, dpa

Die Corona-Zahlen gehen immer weiter nach oben - die Kliniken kommen
näher an die Überlastung. Doch nach bisherigem Plan zieht der Bund
frühestens Ende kommender Woche die Notbremse. Der Ruf nach mehr
Tempo wird lauter.

Berlin (dpa) - Die immer dramatischere Corona-Lage in den Kliniken
lässt den Ruf nach einem schnelleren Lockdown als geplant lauter
werden. «Wir müssen jetzt handeln, jetzt auf allen Ebenen, und
natürlich auch besonders auf der Ebene der Entscheider», sagte der
Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, am
Donnerstag in Berlin. Die Infektionszahlen steigen weiter an.
Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) warnte, «dass ohne einen Stopp
dieser Entwicklung unser Gesundheitssystem an den Rand seiner
Kapazität gelangen wird». Die Länder sollten nicht bis zur geplanten

Bundes-Notbremse warten. Die Intensivmediziner der Vereinigung DIVI
forderten den Bundestag dazu auf, für diese Notbremse auf gewohnte
Beratungs-Abläufe zu verzichten.

An diesem Freitag will der Bundestag das entsprechende
Infektionsschutzgesetz erstmals im Plenum beraten. Die Fraktionen
debattieren bereits heftig über Änderungswünsche. Eine Fortsetzung
dürften die Diskussionen in den kommenden Tagen in den Ausschüssen
finden. Eine Verabschiedung der Regelung inklusive abendlichen
Ausgangsbeschränkungen ist für kommenden Mittwoch vorgesehen. Dann
ist noch der Bundesrat am Zug. Die Verschärfungen sollen dann
greifen, wenn in einem Landkreis oder einer Stadt mehr als 100
Neuinfektionen auf 100 000 Einwohner in 7 Tagen kommen. Schon am
Mittwoch hatten 344 von 412 Kreisen die Schwelle überschritten.

Spahn verlangte von den Ländern, schon vor Inkrafttreten des Gesetzes
für die Reduzierung von Kontakten zu sorgen. «Bitte nicht alle jetzt

auf dieses Gesetz warten!», sagte er. «Das alleine und das auch erst

Ende nächster Woche in Kraft tretend löst unser akutes Problem nicht

(.) auf den Intensivstationen. Jeder Tag früher ist ein Tag besser.» 


Baden-Württemberg wird die angekündigte «Notbremse» der
Bundesregierung schon ab kommenden Montag umsetzen. Dies teilte
Gesundheitsminister Manne Lucha (Grüne) am Donnerstag in Stuttgart
mit. Da man die Corona-Verordnung des Landes ohnehin am Wochenende
verlängern müsse, würden die vorgesehenen Verschärfungen des Bundes

direkt mit eingearbeitet. «Wir warten nicht auf den Bund, wir müssen
jetzt handeln. Jeder Tag zählt in der Pandemiebekämpfung und wir
wollen den Menschen in einer Woche nicht schon wieder eine neue
Verordnung präsentieren», sagte Lucha.

Wieler warnte vor dem Irrglauben, das Virus wegtesten zu können. «Das
funktioniert nicht», sagte er. «Wir müssen die Zahlen runterbringen

Dazu seien Verordnungen, wirksame Strategien und deren sofortige
Umsetzung nötig. 

DIVI-Präsident Gernot Marx sprach auf NDR Info von einer bereits
jetzt beispiellosen Situation in den Intensivstationen. Wieler sagte:
«Die Lage in den Krankenhäusern spitzt sich teilweise dramatisch zu
und wird uns auch noch härter treffen als in der zweiten Welle. Wir
müssen jetzt handeln.» Er riet allen Kliniken, den Regelbetrieb
einzuschränken. Es gebe jetzt schon in einigen Städten auf den
Intensivstationen keine freien Betten mehr. Kranke mit stabilem
Zustand sollten in weniger betroffene Regionen verlegt werden. Eine
Notbremse ab Inzidenz 100 sei längst überfällig, sagte der Präsiden
t
der Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, der «Rheinischen Post».

29 426 Corona-Neuinfektionen und 294 neue Todesfälle innerhalb von 24
Stunden - das sind die in einem Tag gemeldeten Kennziffern der
dritten Welle. Die Fallzahlen nähmen nicht zu, weil mehr getestet
werde, betonte Wieler. Die gemeldeten Neuinfektionen pro 100 000
Einwohner innerhalb einer Woche liegen bei 160,1. Vor vier Wochen
betrug dieser Wert noch 90,4. Die Gesamtzahl der Toten im
Zusammenhang mit Covid-19 stieg auf 79 381. Am Donnerstag waren laut
DIVI 4679 Intensivbetten mit Covid-19-Patienten belegt, ähnlich viele
wie am Vortag. Die Vereinigung erwartet, dass der bisherige
Höchststand von etwa 6000 Covid-19-Intensivpatienten noch im April
wieder erreicht wird.

«Was wir jetzt möglicherweise versäumen, rächt sich in zwei, drei
Wochen», sagte Spahn. «Genauso wie sich jetzt rächt, was vor zwei,
drei Wochen nicht entschieden wurde.» Kritik an den geplanten
Ausgangsbeschränkungen ab 21 Uhr wies Spahn zurück. Es gehe nicht
darum, ob jemand alleine abends um 10 Uhr unterwegs sei. Es gehe
Kontakte und das Infektionsrisiko bei privaten Treffen in
geschlossenen Räumen. Studien zeigten, Ausgangsbeschränkungen seien
für den jetzt nötigen klaren Schnitt wirksam: «Zwei, drei Wochen
dieses Land - Ostern wäre aus meiner Sicht eine gute Gelegenheit
gewesen - so herunterzufahren, dass wir die Welle brechen.» Erst
anschließend seien Öffnungen mit Testkonzepten möglich.

Änderungswünsche für den Entwurf der Bundes-Notbremse zielen auch a
uf
die Ausgangsbeschränkung. Die SPD im Bundestag etwa will hier
erreichen, dass auch nach 21 Uhr Sport im Freien erlaubt bleibt.
Experten des Kanzleramts verwiesen laut «Bild»-Zeitung in einem
internen Vermerk darauf, dass das Oberverwaltungsgericht
Niedersachsen eine nächtliche Ausgangssperre schon einmal aufgehoben
hatte. Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) verteidigte die
Ausgangsbeschränkungen als «verhältnismäßig». «Das hat über
all
geholfen. In vielen Staaten der Welt ist das gemacht worden. Und es
hat die Inzidenzwerte nach unten gebracht», sagte er in der ARD. 

Als unzureichend wurden weiter die geplanten Beschränkungen für die
Schulen kritisiert. Wieler und Spahn störten sich am geplanten Stopp
von Präsenzunterricht ab einer Corona-Inzidenz von 200. «Aus meiner
Sicht ist die 200er-Grenze zu hoch», sagte Wieler. Laut RKI
verbreitet sich die inzwischen mit 90 Prozent vorherrschende
britische Virusvariante auch an den Schulen. Spahn sagte, er könne
sich deutlich früher als bei 200 Maßnahmen vorstellen. Bereits
Bildungsgewerkschaften hatten die 200er-Schwelle als zu hoch
kritisiert. Die Länder handhaben es unterschiedlich. 

Das Saarland muss bei seinen umstrittenen Öffnungen möglicherweise
die Notbremse ziehen. Eine Expertengruppe des Gesundheitsressorts des
Landes verwies auf den gestiegenen R-Wert zur Weitergabe von Corona
an andere (1,5) und die Verdopplung der Mutationsfälle in einem Tag.
Die Experten raten zur roten Ampel für das «Saarland-Modell», wenn

sich die Lage nicht noch am Donnerstag verbessere.

Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter sagte bei RTL/ntv, die
Änderungen am Infektionsschutzgesetz reichten bei weitem nicht. «Da
braucht es deutlich mehr.» Er sprach sich für bundesweite Schritte
bereits bei einer Inzidenz von unter 100 aus. 

NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) rief ebenfalls zu
entschlossenem Handeln auf. «Besonders die Lage auf den
Intensivstationen spitzt sich von Tag zu Tag weiter zu», sagte der
CDU-Bundesvorsitzende im Landtag in Düsseldorf. «Wir müssen jetzt
handeln.»