Ruf nach mehr Tempo - dritte Pandemiewelle brechen

Intensivstationen laufen voll, aber schnelles politisches Handeln
lässt in der Pandemie vielerorts auf sich warten. Die Mahner werden
nun lauter.

Berlin (dpa) - Warten kann Leben kosten: Das Robert Koch-Institut hat
Bund und Länder eindringlich aufgefordert, die dritte Welle der
Corona-Pandemie so schnell wie möglich zu brechen. Es sei naiv zu
glauben, das Virus wegtesten zu können. «Das funktioniert nicht»,
sagte Institutsleiter Lothar Wieler am Donnerstag. «Wir müssen die
Zahlen runterbringen.» Dazu seien Verordnungen, wirksame Strategien
und deren sofortige Umsetzung nötig. Bundesgesundheitsminister Jens
Spahn (CDU) appellierte an die Länder, nicht auf die frühestens
nächste Woche fertige «Bundes-Notbremse» zu warten. «Jeder Tag
zählt.»

Die Gesundheitsämter in Deutschland haben dem Robert Koch-Institut
(RKI) aktuell 29 426 Corona-Neuinfektionen und 294 neue Todesfälle
innerhalb von 24 Stunden gemeldet. Nachträgliche Änderungen oder
Ergänzungen sind möglich - doch die Tendenz ist deutlich: Der starke
Anstieg der Fallzahlen setzt sich fort. Möglicherweise noch diese
Woche wird es einen Rekord seit Beginn der Pandemie geben. Die
Fallzahlen nähmen nicht zu, weil mehr getestet werde, betonte Wieler.
Es gebe 12 Prozent positive PCR-Tests - aber nur die Hälfte der
Kapazität werde überhaupt ausgeschöpft.

Die tatsächliche Zahl der Ansteckungen könnte damit also noch
deutlich höher liegen. Die gemeldeten Neuinfektionen pro 100 000
Einwohner innerhalb einer Woche lagen dem RKI zufolge am
Donnerstagmorgen bundesweit bei 160,1. Vor vier Wochen betrug dieser
Wert noch 90,4. Die Gesamtzahl der Toten im Zusammenhang mit Covid-19
stieg auf 79 381.

Wieler sagte weiter: «Die Lage in den Krankenhäusern spitzt sich
teilweise dramatisch zu und wird uns auch noch härter treffen als in
der zweiten Welle. Wir müssen jetzt handeln.» Er riet allen Kliniken,
den Regelbetrieb einzuschränken. Es gebe jetzt schon in einigen
Städten und Ballungsgebieten auf den Intensivstationen keine freien
Betten mehr. Kranke mit stabilem Gesundheitszustand sollten
rechtzeitig in weniger betroffene Regionen verlegt werden.

Für Spahn bleibt es Hauptziel, eine Überlastung des
Gesundheitssystems zu vermeiden. «Das was wir jetzt möglicherweise
versäumen, rächt sich in zwei, drei Wochen. Genauso wie sich jetzt
rächt, was vor zwei, drei Wochen nicht entschieden wurde.» Er
erwartet trotz Rückschlägen bei den Impfstoffen von Astrazeneca und
Johnson & Johnson, dass bis zum Ende des Sommers weiterhin jeder
Impfwillige eine Corona-Impfung bekommen kann. Im Sommer sei mit
einer Entspannung der Lage zu rechnen. «Ob dann gleich schon wieder
alle bis zu den Seychellen fliegen müssen, weiß ich nicht. Bis zur
Nordsee wird man sicher kommen.»

Doch im Moment ist das Impfen noch keine Notbremse. Aktuell gibt es
rund 17 Prozent Erstgeimpfte. Vollständig immunisiert sind erst rund
6 Prozent der Bundesbürger. Impfen und Testen reichten im Moment
nicht, um die dritte Welle zu brechen, sagte Spahn. Die meisten
Neuerkrankungen gebe es nun bei den 15- bis 49-Jährigen, berichtete
Wieler. Neben Jugendlichen kann das bei der Dominanz der
ansteckenderen Virusvariante B.1.1.7. auch ihre Eltern treffen.

Wieler und Spahn kritisierten den geplanten Stopp von
Präsenzunterricht ab einer Corona-Inzidenz von 200 als unzureichend.
«Gerade bei den Schulen, gerade mit den Erfahrungen, die wir mit
dieser Mutation haben, kann ich mir auch deutlich früher als bei 200
diese Maßnahmen vorstellen - unbedingt», sagte Spahn. In einigen
Ländern gibt es bereits geltende Regeln, wonach Schulen ab einer
Inzidenz von 100 zu Distanzunterricht wechseln. Auch
Bildungsgewerkschaften hatten deutlich höhere Inzidenzen bereits als
zu riskant kritisiert.

Wieler verglich die aktuelle Pandemielage mit einem Bild: «Stellen
Sie sich vor, Sie fahren über enge Straßen in den Dolomiten. Es ist
kurvenreich und an einer Seite ist ein steiler Abhang. Jeder weiß, in
diese Kurve kann ich nur mit 30 fahren. Wenn ich hier mit einer
Geschwindigkeit von 100 reinfahre, dann ist das lebensgefährlich. Man
kommt nämlich von der Straße ab. Und ehrlich gesagt hilft dann auch
keine Notbremse mehr.»