Rechtsprofessor äußert Verfassungsbedenken gegen Corona-Notbremse

Ausgangssperren hat die Landesregierung in NRW bislang stets
abgelehnt. Mit der Bundes-Notbremse würde sie aber auch hier greifen.
Die FDP führt eine Rechtsexpertise dagegen ins Gefecht.

Münster/Düsseldorf (dpa/lnw) - Der Münsteraner Staatsrechtler Hinnerk

Wißmann hat verfassungsrechtliche Bedenken gegen die geplante
bundesweite Corona-Notbremse. In einer juristischen Expertise im
Auftrag der nordrhein-westfälischen FDP-Landtagsfraktion, die der
Deutschen Presse-Agentur in Düsseldorf vorliegt, kritisiert der
Wissenschaftler «statisch angeordnete Eingriffe in die Bürgerrechte».


In seiner Ad-hoc-Stellungnahme warnt der Wissenschaftler: «Die
weitreichendsten Beschränkungen von Bürgerrechten durch die
Bundesregierung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland -
mögliche Ausgangssperren für die gesamte Bevölkerung, Beschränkung

der häuslichen Gemeinschaft - sollen nach 14 Monaten
Pandemiebekämpfung in einem Schnellverfahren eingeführt werden». Es
handle sich hier aber nicht um eine Notgesetzgebung, «die angesichts
einer plötzlichen Katastrophe unausweichlich in schnellster Frist
zustandekommen muss», wandte er ein.

Die Bundesregierung habe die aus seiner Sicht zweifelhafte
Notwendigkeit in einer Formulierungshilfe zur Änderung des
Infektionsschutzgesetzes zudem mit einer «panik-affinen Vorrede»
begründet, kritisierte Wißmann. darüber hinaus wäre es notwendig, d
en
«Ausnahmecharakter» der Eingriffe hervorzuheben und diese zeitlich zu
befristen.

Das Bundeskabinett hatte am Dienstag die Bundes-Notbremse auf den Weg
gebracht. In allen Kreisen und Städten mit hohen Infektionswerten
soll es künftig bundeseinheitliche Einschränkungen geben - unter
anderem Ausgangssperren zwischen 21 und 5.00 Uhr. Dafür soll das
Infektionsschutzgesetz geändert werden.

Die Änderungen sind als Einspruchsgesetz formuliert, was es für den
Bundesrat schwerer macht, es aufzuhalten oder noch zu verändern. Die
Länderkammer müsste dazu den Vermittlungsausschuss anrufen. Dazu
bräuchte es eine absolute Mehrheit.

Sollte das Gesetz dennoch im Bundesrat beraten werden, ist mit einer
Enthaltung der CDU-FDP-Koalition Nordrhein-Westfalens zu rechnen. Die
FDP will nicht für pauschale Ausgangssperren stimmen. Obwohl auch
Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) Ausgangsverbote bislang stets
abgelehnt hatte, hat sich der CDU-Bundeschef jetzt für eine schnelle
bundeseinheitliche Lösung stark gemacht.

«Es gibt keinen verfassungsrechtlichen Sachzwang zur vorgeschlagenen
Regelung», argumentiert Wißmann in seiner Stellungnahme zu dem
Gesetzentwurf. Die als Grundlage vorgesehene «eindimensionale
Festlegung auf eine gegriffene Inzidenzzahl (...) unterschreitet das
verfassungsrechtlich gebotene Maß rationaler Gesetzgebung».

Die Eignung der geplanten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sei
zweifelhaft. So hätten etwa Bayern und Baden-Württemberg - im
Gegensatz zu Nordrhein-Westfalen - über Monate strikte
Kontaktbeschränkungen im privaten Raum und nächtliche Ausgangssperren
angewandt. «Es ist nicht erkennbar, dass aus den Maßnahmen
tatsächlich wirksame Effekte bei der Infektionsbekämpfung
resultierten, da die Bundesländer keineswegs besser dastanden oder
dastehen als NRW», bilanzierte der Jurist.

«Vollständig misslungen» seien die Planungen im Schulbereich. Laut
Gesetzentwurf soll Präsenzunterricht verboten werden, einige Tage
nachdem der Schwellenwert von 200 Neuinfektionen auf 100 000
Einwohner binnen sieben Tagen überschritten ist - mit möglichen
Ausnahmen für Abschlussklassen und Förderschulen. «Die Untersagung
des Schulbetriebs in Präsenz überschreitet in prinzipieller Weise den
Sachbereich des Infektionsschutzrechts, weil damit den Ländern eine
eigene Gesetzgebungs- wie Verwaltungskompetenz aus den Händen
genommen wird», monierte Wißmann.