Suchtbericht: Zu viel Alkohol- und Tabakkonsum im Pandemie-Jahr Von Yuriko Wahl-Immel, dpa

Auch in der Pandemie wird laut Experten zu viel Alkohol getrunken.
Und mehr geraucht als zuvor. Wie hat sich der Konsum legaler und
illegaler Drogen insgesamt entwickelt? Warum könnte ein Gesetz
Spielsucht befeuern?

Hamm (dpa) - Im Corona-Jahr 2020 ist der Konsum von Tabakwaren in
Deutschland gestiegen. Außerdem wird weiter deutlich mehr Alkohol
getrunken als im europäischen Durchschnitt. Darauf hat die Deutsche
Hauptstelle für Suchtfragen in Hamm bei der Vorlage ihres «DHS
Jahrbuch Sucht 2021» am Mittwoch hingewiesen. Hat die Pandemie den
Konsum legaler und illegaler Drogen beeinflusst?

ALKOHOL: In Deutschland wurde auch 2020 erheblich mehr Alkohol als im
europäischen Durchschnitt konsumiert, sagt DHS-Vizegeschäftsführer
Peter Raiser. Zwar gebe es die exakten Mengenzahlen für 2020 noch
nicht, aber es zeichne sich ab: Unter den Kontaktbeschränkungen wurde
mehr Zuhause getrunken. In belastenden Situationen würden Bier, Wein
und Schnaps häufiger als vermeintliche Stresslöser geschluckt. Die
Risiken: Alkohol könne über 200 Krankheiten verursachen, darunter
Krebs- sowie Herz- und Kreislauferkrankungen.

Der Bericht geht von drei Millionen Menschen zwischen 18 und 64
Jahren aus, die alkoholabhängig sind oder Alkohol in missbräuchlicher
Weise zu sich nehmen. Die also keine Kontrolle mehr über Beginn und
Ende des Trinkens haben oder auch etwa bei der Arbeit nicht ohne
Alkohol auskommen. Laut Statistischem Bundesamt lag der
Pro-Kopf-Konsum 2020 bei 86,9 Litern Bier - fünf Liter weniger als
2019. Schaumweine, Spirituosen und Co. hätten ebenfalls weniger
Abnehmer gefunden.

Deutschland ist beim Alkohol im internationalen Vergleich
«Hochkonsumland», stellt Gesundheitsforscher Ulrich John vom
Uniklinikum Greifswald klar. «Eine viel zu positive Wahrnehmung von
Alkohol ist weit verbreitet.» Das Risikobewusstsein falle zu gering
aus. Nach neuestem wissenschaftlichen Stand könnten schon kleine
Mengen das Risiko für ernste Erkrankungen erhöhen. Bei Frauen liege
die kritische Grenze bei einem halben Glas Wein am Tag - zwei Tage
pro Woche ohne Alkohol vorausgesetzt. Bei Männern betrage die
kritische Menge das Doppelte - in Bier ausgedrückt: Ein halber Liter
am Tag. «Das Optimum ist ein alkoholfreies Leben», betont der
Experte. Die Datenbasis sei auch noch nicht ausreichend, um daraus
schon zu zu folgern, dass die Corona-Beschränkungen - geschlossene
Kneipen, abgesagte Feste - zu einer Konsumsenkung beigetragen hätten,
meint der Wissenschaftler.

TABAK: Die Zahl der Raucher ist seit einiger Zeit rückläufig. Im
Pandemiejahr gaben die Bürger mit 28,8 Milliarden Euro aber fünf
Prozent mehr für Tabakwaren aus als 2019. Sehr deutlich war das Plus
bei Feinschnitt für Selbstgedrehte, ein geringfügiges Minus gab es
bei Fertigzigaretten. Pfeifentabak-Konsum schnellte hoch - um gut 44
Prozent auf fast 6000 Tonnen, auch wegen des bei jüngeren Leuten
gefragten Shisha-Qualmens. Die DHS warnt, dass jedes Jahr bundesweit
weit mehr als 100 000 Menschen an den Folgen des Rauchens sterben.

MEDIKAMENTEN-MISSBRAUCH ist nach DHS-Angaben unabhängig von der
Corona-Krise für geschätzte 1,5 bis 1,9 Millionen Menschen ein
Problem. Viele seien von Schlaf- und Beruhigungsmitteln abhängig oder
von opioidhaltigen Schmerzmitteln und Psychopharmaka.

ILLEGALE DROGEN: Die Zahl der Drogentoten stieg in Deutschland auf
1581 Menschen - 2019 waren 1398 Personen am Konsum illegaler
Substanzen gestorben. Es gibt nach aktuellster DHS-Einschätzung
309 000 Cannabis-Abhängige. Kokain-Sucht liege bei 41 000 Personen
vor, bei Amphetaminen seien es 103 000 Abhängige.

SPIELSUCHT: Befürchtungen, in der Pandemie werde das
Online-Glücksspiel boomen, haben sich bisher nicht bestätigt, sagt
Ilona Füchtenschnieder, Vorsitzende des Fachverbands
Glücksspielsucht. Hier zeigten sich auch positive Effekte. Wer zuvor
in Spielhallen gezockt habe, wandere nicht zwangsläufig ins Internet
ab. Negativ sei aber die zum 1. Juli 2021 geplante Änderung des
Glücksspielstaatsvertrags. Damit würden die bislang fast überall
verbotenen Online-Casinos legal. Sie warnt: «Das gleicht einer
Kundenbeschaffungsmaßnahme in diesem gefährlichen Bereich.»

SELBSTHILFE UND BERATUNG: Die schon seit über einem Jahr andauernde
Krise verstärkt nach Beobachtung von Fachleuten Suchtgefahr und
Rückfallrisiko. Regelmäßiger Austausch stabilisiere Suchtkranke,
erläutert der Suchthilfeverband Blaues Kreuz. Man habe stark auf
digitale Angebote umstellen müssen, was viele als hilfreich annähmen.
Es ersetze eine persönliche Begegnung aber nicht ganz. Von anhaltend
hohem Gesprächsbedarf, geschilderter Einsamkeit und
Perspektivlosigkeit berichtet die Wuppertaler Sozialtherapeutin,
Fabienne Kroening. Die Stimmung sei vielfach sehr gedrückt, manche
hätten sich der Situation «geschlagen gegeben».