Regierung billigt Corona-Notbremse - Ausgangsbeschränkungen in Sicht

Die Corona-Zahlen klettern, aber Bund und Länder taten sich schwer
mit einem gemeinsamen Kurs. Nach wochenlangem Hickhack soll nun der
Lockdown verschärft werden. Der erste Schritt ist gemacht - aber um
Details wird noch gerungen.

Berlin (dpa) - Ausgangsbeschränkungen, geschlossene Läden,
Testpflicht an Schulen: Die Menschen in weiten Teilen Deutschlands
müssen sich auf strenge Lockdown-Maßnahmen nach bundesweit
verbindlichen Vorgaben einstellen. In allen Kreisen und Städten mit
hohen Infektionswerten soll es Einschränkungen geben. Entsprechende
Änderungen des Infektionsschutzgesetzes hat die Bundesregierung am
Dienstag beschlossen. Ziel ist die bessere Eindämmung der
Corona-Pandemie. Kommende Woche sollen die Neuerungen vom Parlament
beschlossen werden und dann den Bundesrat passieren - trotz
deutlicher Kritik einiger Länder und der Opposition im Bundestag.

«Wir setzen die Notbremse bundesweit um», sagte Kanzlerin Angela
Merkel (CDU) zu ihren Plänen. «Die Unklarheiten, was in dem einen
oder anderen Landkreis wann gilt oder was wann nicht gilt - das ist
dann vorbei.» Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz (SPD)
erklärte nach dpa-Informationen in der Sitzung der SPD-Fraktion, die
Bürger blickten nicht mehr durch bei den Corona-Regeln. «Ziel des
Gesetzentwurfs ist es, klare und einheitliche Regeln zu schaffen und
die Grundlage zu legen, dass die Notbremse bei Inzidenzen über 100
konsequent gezogen wird.»

Die nächtlichen Verhandlungsrunden von Union, SPD und Bundesregierung
hatten zwar einen kabinettsreifen Beschluss geliefert, die Gespräche
im Bundestag gehen aber weiter. «Die nächsten Tage nutzen wir, um die
bundesgesetzlichen Maßnahmen widerspruchsfrei und verfassungsfest
auszugestalten», sagte der rechtspolitische Sprecher der
Unionsfraktion, Jan-Marco Luczak (CDU), der Deutschen Presse-Agentur.

Vorgesehen sind nun unter anderem Ausgangsbeschränkungen. So soll von
21.00 bis 5.00 Uhr der Aufenthalt außerhalb einer Wohnung oder eines
dazugehörigen Gartens im Grundsatz nicht erlaubt sein, wobei es
Ausnahmen gibt. Gelten sollen diese und andere Beschränkungen, wenn
in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an drei
aufeinanderfolgenden Tagen die 7-Tage-Inzidenz über 100 liegt. Das
bedeutet, dass binnen einer Woche mehr als 100 Neuinfizierte auf
100 000 Einwohner kommen.

Dieser Punkt ist allerdings umstritten. «Im weiteren Verfahren werden
wir nochmal intensiv prüfen, dass neben dem Inzidenzwert weitere
Kriterien herangezogen werden», kündigte SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese
an. Auch die FDP hat hier Bedenken. Die Inzidenzzahl bilde die Lage
vor Ort nicht ausreichend ab, sagte FDP-Chef Christan Lindner. Wenn
es in einem Landkreis einen isolierten Ausbruch etwa in einem
fleischverarbeitenden Betrieb gebe, dann werde laut Gesetz noch
dutzende Kilometer entfernt auch geimpften Menschen der
Abendspaziergang verboten.

Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) sagte, die
Regeln zum Einzelhandel seien unakzeptabel. Shoppen mit «Click &
Collect» müsse auch bei einer Inzidenz über 100 generell möglich
bleiben. Auch pauschale Ausgangssperren bei einer Inzidenz über 100
lehnt seine Jamaika-Koalition weiter ab.

Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte sagte «Welt», große
rechtliche Probleme sehe er bei der Ausgangssperre. «So wie sie
bislang vorgesehen ist, nämlich ohne Berücksichtigung der konkreten
Situation vor Ort, kann ich mir nur sehr schwer vorstellen, dass sie
vor Gericht Bestand haben wird.»

Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach forderte dagegen, die
geplanten Ausgangsbeschränkungen nicht aufzuweichen. Sie hätten in
Portugal, England und Frankreich eine wichtige Rolle bei der
Pandemiebekämpfung gespielt, sagte er der «Augsburger Allgemeinen».

In einem neuen Paragrafen 28b des Infektionsschutzgesetzes soll
ferner festgelegt werden, dass private Zusammenkünfte im öffentlichen
oder privaten Raum dann nur gestattet sind, wenn an ihnen höchstens
die Angehörigen eines Haushalts und eine weitere Person
einschließlich dazugehörender Kinder bis zur Vollendung des 14.
Lebensjahres teilnehmen.

Unter anderem dürfen bei einer höheren Inzidenz zudem die meisten
Läden und die Freizeit- und Kultureinrichtungen sowie die Gastronomie
in der Regel nicht öffnen. Übernachtungsangeboten zu touristischen
Zwecken sollen bei entsprechenden Inzidenzen in einer Region
untersagt sein.

An Schulen soll Präsenzunterricht nur mit zwei Coronatests pro Woche
gestattet werden. Überschreitet in einem Landkreis oder einer
kreisfreien Stadt an drei aufeinander folgenden Tagen die
7-Tage-Inzidenz 200, soll Präsenzunterricht untersagt werden.

Vorgesehen ist zudem, dass der Bund über eigene Verordnungen die
Corona-Maßnahmen vor Ort steuern kann - dazu bräuchte es aber jeweils
die Zustimmung von Bundestag und Bundesrat Dieser
Zustimmungsvorbehalt des Bundestags sei ein entscheidender Punkt,
sagt SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese, der das Gesetz mit ausgehandelt
hat. «Hier haben wir als SPD-Fraktion bereits jetzt einen wichtigen
Punkt verankert.» Die FDP sieht das deutlich kritischer. Die
Einbindung des Parlaments bleibe vage, kritisierte Buschmann. Die
Frist sei zu kurz.

Aus Sicht der AfD drohen massive und automatische Eingriffe in Grund-
und Freiheitsrechte. Die Bundesregierung maße sich Kompetenzen an,
die ihr nicht zustehen, um von ihrem offenkundigen Versagen etwa bei
der Impfstoffbeschaffung abzulenken.

Auch die Grünen reagierten enttäuscht. «Was wir jetzt vorgelegt
bekommen haben, ist ein Notbehelf für eine Notbremse», sagte
Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt. Sie vermisste insbesondere
schärfere Vorgaben für die Arbeitswelt, mit weiterreichenden Vorgaben
für das Homeoffice und Pflichttests, sowie mehr Schutz für Kinder und
Jugendliche. Bereits ab einer Inzidenz von 100 müsse der
Präsenzunterricht zurückgefahren werden.

Lebensfremd sei auch, dass bei den Regelungen zur Kontaktbeschränkung
nicht zwischen Begegnungen in Innenräumen und an frischer Luft
unterschieden wird, sagte Göring-Eckardt. Erst tags zuvor hatten
führende Aerosol-Forscher darauf hingewiesen, dass Sars-CoV-2 fast
ausnahmslos in Innenräumen übertragen wird.

Auch der Verband Bildung und Erziehung (VBE) kritisierte die geplante
Corona-Notbremse für die Schulen als unzureichend. «Für alle anderen

Bereiche gilt die Notbremse ab 100, im Bildungsbereich kann bis zur
doppelten Inzidenz Unterricht vor Ort stattfinden», stellte der
Gewerkschaftschef Udo Beckmann fest. «Für diese Abweichung fordern
wir eine wissenschaftlich belegbare Begründung und die Festlegung von
Maßnahmen, die zusätzlich bei Inzidenzen zwischen 100 und 200 zu
ergriffen sind.»

Stundenlang war unter Hochdruck über die Regelungen verhandelt
worden. Nach dpa-Informationen sollen in der Vorlage Fraktions- und
Länderwünsche von der Bundesregierung in wichtigen Punkten
berücksichtigt worden sein.

Die Corona-Zahlen steigen seit Tagen immer weiter. Die
7-Tage-Inzidenz lag am Dienstag bundesweit bei 140,9. Einen höheren
Wert hatte es zuletzt vor drei Monaten, am 15. Januar, gegeben. Laut
Robert Koch-Institut (RKI) gab es zudem binnen eines Tages 10 810
Corona-Neuinfektionen und 294 neue Todesfälle. Der 7-Tage-R-Wert, der
die Weitergabe des Erregers durch eine Person rechnerisch beschreibt,
stieg auf 1,09. Auf Intensivstationen liegen 4688 Covid-19-Patienten
Die Intensivmediziner-Vereinigung Divi hatte die Politik bereits dazu
aufgerufen, die Notbremse möglichst noch diese Woche zu
verabschieden.

Neben der Novelle des Infektionsschutzgesetzes hat das Kabinett auch
eine Pflicht für Angebote von Coronatests in Unternehmen auf den Weg
gebracht. Der Entwurf einer geänderten Arbeitsschutzverordnung sieht
vor, dass die Unternehmen ihren Beschäftigten in der Regel einmal in
der Woche Tests zur Verfügung stellen.