Corona-Krisenmanagement des Bundes im Norden umstritten

Bund-Länder-Gipfel abgesagt, neue Regelung im Infektionsschutzgesetz,
wechselseitige Schuldvorwürfe - die Debatten in der Corona-Krise
gehen auch im Norden munter weiter. Die SPD nimmt die Kanzlerin und
die Union insgesamt ins Visier.

Kiel (dpa/lno) - Mit der Absage des Bund-Länder-Gipfels und den
Plänen für neue verbindliche Regelungen im Infektionsschutzgesetz hat
die Corona-Debatte auch in Schleswig-Holstein neue Fahrt aufgenommen.
Regierungschef Daniel Günther sieht trotz der Absage der
Ministerpräsidentenkonferenz mit Kanzlerin Angela Merkel ein
hinreichendes Regelwerk für das Vorgehen in der Pandemie. «Auch ohne
ein Treffen zwischen Bund und Ländern in der kommenden Woche haben
wir für die nächsten Wochen klare Grundsätze für unser Handeln»,

sagte er am Freitag. Sowohl die Öffnung der Außengastronomie als auch
die Umsetzung der Modellregionen im Norden werden von der bundesweit
laufenden Debatte nicht berührt.

Schleswig-Holstein, das mit zuletzt 64,5 Neuinfektionen pro 100 000
Einwohnern binnen sieben Tagen die bundesweit niedrigste Inzidenz
hat, öffnet ab Montag die Außengastronomie. Eine Woche später könne
n
Modellprojekte in Tourismus, Kultur und Sport starten - alles unter
strengen Vorgaben.

«Wenn derzeit über einen sogenannten Lockdown gesprochen wird, geht
es um eine Notbremse für Regionen mit einer steigenden Inzidenz über
100», sagte Günther. «Für diese Regionen wenden wir in
Schleswig-Holstein die Notbremse ohnehin bereits konsequent an.» Das
Land setze seinen Stufenplan sowohl bei sinkenden als auch bei
steigenden Inzidenzen um. Die «Notbremse» habe immer Wirkung gezeigt.
Deshalb verschließe sich das Land auch nicht der Debatte darüber,
diese Maßnahmen bundesweit einheitlicher über eine Änderung des
Infektionsschutzgesetzes umzusetzen.

SPD-Bundesvize Serpil Midyatli griff die Kanzlerin an. «Die geplante
Änderung des Infektionsschutzgesetzes zeigt, dass Angela Merkel die
CDU-Ministerpräsidenten nicht mehr im Griff hat», sagte die
Landesvorsitzende der Nord-SPD. «Die Kanzlerin hat große Mitschuld an
der aktuellen Lage.» So habe sie Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU)
bei der Beschaffung von Impfstoff ausgebremst und die flächendeckende
Einführung von Schnelltests verzögert. «Auch das Scheitern der
letzten Ministerpräsidentenkonferenz geht maßgeblich auf ihr Konto.»


Am Mittag hatte die Bundesregierung mitgeteilt, in der nächsten Woche
finde kein Corona-Gipfel statt. Dann verkündete sie, Bund und Länder
hätten sich geeinigt, im Eilverfahren das Infektionsschutzgesetz zu
ändern. Dies soll im Kampf gegen die Pandemie eine bundeseinheitliche
Regelung für das Vorgehen bei einer Inzidenz von über 100 schaffen.

Der Präsident des Robert Koch-Instituts kritisierte regionale
Lockerungen bei hohen Fallzahlen. «In einigen Regionen wird aktuell
bei Sieben-Tage-Inzidenzen um 100 gelockert», sagte Lothar Wieler.
Bei der sich zuspitzenden Lage in Kliniken und Intensivstationen sei
das bedenklich. «Unter diesen Umständen bedeuten Lockerungen nicht,
dass die Menschen nun einem niedrigeren Infektionsrisiko ausgesetzt
sind.» Vielmehr gäben Verantwortungsträger die Verantwortung der
Pandemiebewältigung an den Einzelnen ab. In Schleswig-Holstein gibt
es bei Inzidenzen über und nahe an 100 keine Lockerungen.

SPD-Landeschefin Midyatli rügte die Union für unterschiedliche
Signale: Während Saarlands Regierungschef Tobias Hans bei Inzidenzen
knapp unter 100 über Öffnungen statt über die Notbremse spreche,
wollten Bayerns Markus Söder, CDU-Chef Armin Laschet und Merkel einen
bundesweiten Lockdown. Dieser wiederum würde auch Schleswig-Holstein
mit relativ niedrigen Corona-Zahlen treffen.

Die Grünen kritisierten die Absage des Bund-Länder-Gipfels. Dies sei
angesichts der kritischen Entwicklung des Infektionsgeschehens
befremdlich, sagte der Landesvorsitzende Steffen Regis.

Vor allem eine anhaltende Uneinigkeit in der Union chaotisiere die
Pandemiebekämpfung unnötig, meinte FDP-Fraktionschef Christopher
Vogt. Aktuell erforderlich seien weder neue Bund-Länder-Absprachen
noch eine übers Knie gebrochene Gesetzesänderung. Schleswig-Holstein
habe eine Inzidenz von stabil unter 100 längst erreicht. «Und zwar
mit sinnvollen Maßnahmen und nicht mit einer unfairen
Lockdown-Regelung, die alle über einen Kamm schert.» Eine
Ausgangssperre müsse Ultima Ratio für den Notfall bleiben und dürfe
nicht bei einer Inzidenz von 100 verpflichtend werden.