Gefühle im Lockdown - Wie Aggressivität und Leid sinken könnten Von Basil Wegener, dpa

Lockdown und Unsicherheit ergeben für viele Menschen in Deutschland
eine immer schwerer erträgliche Mischung. Die Risiken für die Psyche
sind aus Sicht von Therapeuten groß - auch wegen politischer
Versäumnisse.

Berlin (dpa) - Stress, Existenzängste, Einsamkeit - die
Corona-Pandemie belastet die Psyche. Deutschlands Psychotherapeuten
fordern deshalb einen stärkeren Schutz der Menschen vor seelischen
Problemen. «Neben Ängsten und Depressionen nehmen auch Anspannung und
Aggression zu, oft zeigen sie sich, oft werden sie verdrängt», sagte
der Präsident der Psychotherapeutenkammer, Dietrich Munz, der
Deutschen Presse-Agentur in Berlin. «Wenn nun aber der Lockdown
trotzdem verlängert und verschärft werden muss, wäre es wichtig, dass

nicht nur wirtschaftliche Entschädigung fließt.»

Dass sich die Krise durch die dritte Welle momentan immer weiter
zuspitzt, ist nach Ansicht von Munz Folge von Ignoranz gegenüber
steigenden Infektionszahlen früher im Jahr. Dass die dritte Welle
kommen würde, sei früh erkennbar gewesen. «Wir haben als Menschen die

Tendenz, kleinere Warnsignale zu ignorieren, um das Lustvolle machen
zu können. Das hat sich gerächt.»

Die Perspektive eines Impfangebots für alle und eines Endes der
Einschränkungen sei für die seelische Widerstandsfähigkeit zentral.
«Wir brauchen ein erreichbares Ziel», sagte Munz. Die dritte Welle
mit der britischen Mutante und einem schärferen Lockdown schiebe sich
aber wie ein großer Schatten vor die Perspektive. «Die
Selbstheilungskräfte scheinen bei vielen allmählich erschöpft zu
sein.» Laut des im März veröffentlichten «Deutschland Barometer
Depression» empfanden fast drei Viertel (71 Prozent) der Bundesbürger
die Situation im zweiten Lockdown als bedrückend.

LOCKDOWN UND AGGRESSIVITÄT:

Andauernder Lockdown begünstigt nach Ansicht des Kammerpräsidenten
aggressiveres Verhalten - doch man könne etwas dagegen machen.
«Stress bringt immer eine Zunahme von Aggressionspotenzial mit sich.»
Unkontrollierbare Angst bedeute Stress. «Angst bewirkt innere
Aktivierung für unsere zwei typischen Reaktionen: Fliehen oder
Dagegenhalten», sagte der Psychologe und Therapeut. Aktiv zu werden
sei kaum möglich - in der Pandemie würden die Menschen zur Passivität

verurteilt.

«Deshalb führt die Aktivierung durch Angst bei vielen zur
Aggressivität - gegenüber Mitmenschen, bei manchen auch gegenüber der

Politik oder sogar der Wissenschaft, die uns das vermeintlich alles
eingebrockt hat», sagte er. Laut «Depressions-Barometer» halten 46
Prozent der Bundesbürger Mitmenschen für rücksichtsloser als im
Lockdown Anfang 2020. Munz betonte, Stress und Aggression könnten
durch Bewegung abgebaut werden. «Die Menschen sollten im Lockdown
Sport machen, zügig gehen, walken, joggen, Rad fahren oder auch
Fitness mit digitalen Angeboten - wie es ihnen am ehesten liegt.»

KINDER UND JUGENDLICHE:

Vor allem viele Kinder und Jugendliche litten unter dem Lockdown. Sie
müssten für ihre Entwicklung eigentlich Alltag mit Gleichaltrigen
teilen können. Logopädinnen und Logopäden berichteten bereits von
vermehrten Störungen bei der Sprachentwicklung. «Wenn Kindergärten
und Schulen erstmal nicht in Präsenz weitermachen können, muss mehr
gegen entstandene Entwicklungsdefizite getan werden.» Kinder aus
sozial benachteiligten Familien seien stärker betroffen.

«Bei den Minderjährigen ist der erste Schritt, die Kinder zu
identifizieren, die aktuell und vor allem auch nach Abklingen der
Pandemie Unterstützung brauchen», sagte Munz. «Lehrkräfte wissen na
ch
monatelangem Homeschooling oft genau, welche Schülerinnen und Schüler
abdriften.» Für diese sollten zusätzliche Betreuungs- und
Unterstützungsmöglichkeiten durch Schulpsychologen geschaffen werden.
«Eine Idee wäre, dass Länder und Kommunen den Einsatz von
Studierenden auch noch vor einem Abschluss möglich machen. Sie
könnten etwa eine Patenschaft für ein Kind übernehmen.» Gerade bei

wärmeren Temperaturen wären verstärkt Angebote im Freien denkbar.

SINGLES UND PAARE:

Einsamkeit - ein verstärktes Problem sei dies jetzt bei Singles.
Viele Menschen, die akut belastet seien, entwickelten dadurch aber
noch keine psychische Erkrankung. «Ihnen wäre mit niedrigschwelligen
Hilfsangebote gedient», sagte Munz. «Doch gerade diese fallen häufig

weg, denn das sind meist Gruppenangebote, Kontaktvermittlung,
Treffpunkte, gemeinsame Aktivitäten.»

Aber nicht nur Rückzug und Alleinsein sind ein Problem. «Bei vielen
Paaren und Familien erzeugt die Enge oft Stress», sagte Munz. «Unter
normalen Umständen pendeln wir zwischen Nähe und Distanz.» Es gebe
viele Hinweise über mehr Gewalt und sexuelle Übergriffe in Familien
schon im ersten Lockdown. Wenn alle immer zuhause sind, gebe es für
Betroffene wenig unkontrollierte Zeiten, etwa um ein Frauenhaus
anzurufen. «Stärkere Aufklärung zur Vermeidung von psychischer
Anspannung und aggressiven Auseinandersetzungen wäre wichtig.»

PSYCHISCHE ERKRANKUNGEN:

«Wenn die Pandemie abklingt, dürften die psychischen Erkrankungen
spürbar zunehmen», sagte Munz. Vermehrt anfragenden Versicherten
könne über die Terminhotline der Ärzte zwar meist problemlos eine
Sprechstunde bei einem Therapeuten vermittelt werden. Doch werde
Behandlungsbedarf festgestellt, warteten rund 40 Prozent der
Patientinnen und Patienten mindestens drei bis neun Monate auf den
Beginn einer Behandlung. «Wir haben einfach zu wenig
Behandlungsplätze», sagte Munz. Kurzfristig sollten Patienten auch
bei Privatpraxen auf Kassenkosten behandelt werden können.
Langfristig müssten mehr Praxen zugelassen werden.

Dem Statistische Bundesamt zufolge arbeiteten 2019 allerdings bereits
19 Prozent mehr Psychologische Psychotherapeutinnen und -therapeuten
sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -therapeuten
als fünf Jahre zuvor - rund 48 000. Der Spitzenverband der
gesetzlichen Krankenkassen regierte entsprechend zurückhaltend auf
die Forderungen. «Die Wartezeiten sind selbstverständlich sehr
ärgerlich und problematisch», sagte ein Sprecher. «Ein Kernproblem
dahinter ist, dass viele Psychotherapeuten nur Teilzeit arbeiten,
aber einen ganze Kassensitz besetzen.» Ein offizielles Gutachten habe
gezeigt, dass in einigen Regionen Therapeuten fehlen, es in anderen
eine Überversorgung gebe.