Kritik an Weils Corona-Kurs - 5000 Tote in Niedersachsen

Wie geht es weiter in Sachen Corona? Niedersachsens Landesregierung
verteidigt ihren Kurs mit Modellöffnungen und Wechselunterricht und
lehnt weitere Einschränkungen ab. Doch Mediziner schlagen Alarm.

Hannover (dpa/lni) - Die Einschätzung der Landesregierung zur
Corona-Entwicklung in Niedersachsen sorgt bei Medizinern und der
Opposition für Kritik. Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) hatte
erklärt, die aktuellen Infektionszahlen seien geringer als erwartet
und die Lage in den Krankenhäusern entspannt. Am Wechselunterricht in
vielen Schulen und Modellöffnungen in einigen Kommunen hält das Land
daher weiter fest, während der für Montag geplante Corona-Gipfel von
Bund und Ländern abgesagt wurde. Die Unimedizin Göttingen und die
Grünen zeichnen dagegen ein pessimistischeres Bild.

INFEKTIONSZAHLEN: Ministerpräsident Weil zufolge geht die Tendenz
dahin, dass der schnelle Anstieg der Corona-Infektionszahlen gestoppt
sei. Tatsächlich lag die landesweite Sieben-Tage-Inzidenz am Freitag
mit 89,5 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner deutlich unter dem Wert
von vor einer Woche (115,1). Allerdings führte das
Landesgesundheitsamt die geringeren Zahlen auch darauf zurück, dass
es über Ostern weniger Arztbesuche und Tests gegeben habe. «Wie
Stephan Weil vor diesem Hintergrund zu seiner Einschätzung gekommen
ist, bleibt offen», kritisierte Grünen-Fraktionschefin Julia Willie
Hamburg.

Insgesamt wurden seit Ausbruch der Pandemie in Niedersachsen 207 905
Corona-Infektionen nachgewiesen. Fast 90 Prozent der Betroffenen
gelten Schätzungen zufolge mittlerweile als genesen. Die Zahl der
seit Beginn der Pandemie an oder mit Corona gestorbenen Menschen in
Niedersachsen ist am Freitag derweil auf 5000 gestiegen. Dem
Gesundheitsamt zufolge waren 87 Prozent von ihnen 70 Jahre oder
älter. Die jüngsten Verstorbenen gab es in der Gruppe der 20- bis
29-Jährigen (fünf Fälle). Ihren Höchststand hatten die täglichen

Todeszahlen Anfang Januar erreicht, seither gehen sie zurück.

LOCKDOWN: Einen harten «Brücken-Lockdown», den CDU-Chef Armin Laschet

Anfang der Woche ins Spiel gebracht hatte, lehnte Weil in den
vergangenen Tagen mehrfach ab. Der Vorschlag lasse viele Fragen offen
und trage so zur Verunsicherung bei, sagte er, zudem habe er Zweifel,
ob weitere Einschränkungen nötig seien. Grünen-Fraktionschefin
Hamburg bezeichnete das als «eher bockig als verantwortungsvoll». Es
sei unklar, wie die Infektionszahlen deutlich gesenkt werden sollen
und es bleibe beim «bleiernen Dauerlockdown-light, der so viele
Menschen schier zur Verzweiflung bringt», sagte sie.

KRANKENHÄUSER: «Die Lage in den Krankenhäusern in Niedersachsen ist
entspannt», erklärte Weil am Donnerstag im ZDF. Allerdings waren an
dem Tag laut Deutscher Interdisziplinärer Vereinigung für Intensiv-
und Notfallmedizin (Divi) mit 292 so viele Covid-19-Patienten im Land
auf einer Intensivstation wie nie zuvor. Damit sei der Höchststand
von Mitte Januar übertroffen worden, berichtete die «Hannoversche
Allgemeine Zeitung». Dem Gesundheitsministerium zufolge gab es im
Januar an einem Tag jedoch sogar mehr als 300 Intensivpatienten.

Der Vorstand Krankenversorgung der Unimedizin Göttingen (UMG), Martin
Siess, sagte dem NDR nun, die Dynamik der jüngsten Entwicklung mache
große Sorgen. Die Zahl der Intensiv- und Beatmungspatienten mit
Corona nehme zu. Derzeit würden an der UMG fast 30 Prozent mehr
Erkrankte beatmet als am Höhepunkt der zweiten Welle im Januar. «Wir
sehen deutlich jüngere schwerkranke Patientinnen und Patienten.»
Nicht dringend benötigte Operationen würden bereits verschoben.

MODELLKOMMUNEN: Der Start der verbliebenen zwölf Modellkommunen mit
an Negativtests gekoppelten Öffnungen verzögert sich - soll aber
weiterhin kommen. Frühestens am 15. April geht es los, darauf hätten
sich die beteiligten Kommunen verständigt, erklärte der
niedersächsische Städtetag. Allerdings müsse noch die weitere
Entwicklung auf Bundesebene abgewartet werden. Denkbar ist, dass die
angekündigte Verschärfung der «Notbremse» bei Inzidenz 100 dem
Vorhaben einen Strich durch die Rechnung macht.

Noch hält die Regierung aber an ihrem Projekt fest - «weil wir es für

richtig halten, nach Wegen zu suchen, wie wir uns langsam an
Normalität heranwagen können», wie eine Sprecherin sagte.
FDP-Fraktionschef Stefan Birkner warnte bereits, es dürfe nicht sein,
«dass sich die Kommunen, Händler und Gastronomen jetzt mit großem
Aufwand vorbereiten, nur um dann nach wenigen Tagen wegen eines neuen
Beschlusses auf Bundes- oder Landesebene wieder gestoppt zu werden».

TESTS AN SCHULEN: Auch im Schul- und Kitabetrieb ändert sich fast
nichts. Liegt eine Region drei Tage in Folge unter der Inzidenz 100,
findet von Montag an weiter Wechselunterricht statt. Liegt sie
darüber, geht es - mit Ausnahme der Grund- und Förderschulen sowie
Abschlussklassen - zurück in den Distanzunterricht. Auch die
Abiturprüfungen sollen, wie von Kultusminister Grant Hendrik Tonne
(SPD) gefordert, weiterhin stattfinden. Neu ist hingegen, dass die
Schüler ihre Corona-Selbsttests noch zu Hause und nicht erst in der
Schule machen sollen. Kita-Kinder werden weiterhin gar nicht
getestet. Um zumindest die Tests beim Personal finanzieren zu können,
forderte der Landkreistag am Freitag zusätzliches Geld vom Land.

IMPFUNGEN: Die Einbindung der Arztpraxen in die Impfkampagne
beschleunigt das Tempo deutlich. Am Donnerstag wurden, wie schon am
Vortag, knapp 65 000 Erst- und Zweitimpfungen verabreicht - in den
Wochen zuvor hatte der Spitzenwert bei knapp 40 000 am Tag gelegen.
Doch auch hier gibt es Streit um eine Vorgabe der Landesregierung:
Denn die hatte der Stadt Göttingen unter der Woche untersagt, den
Impfstoff von Astrazeneca auch an Menschen zu geben, die noch nicht
impfberechtigt sind. Der Grünen-Politiker Trittin verurteilte das als
«verantwortungslos», weil es schnelleres Impfen verhindere.