Bizarrer Streit um gemeinsames Essen für geimpfte Senioren Von Susanne Kupke, dpa

Sie sind geimpft und wollen endlich wieder zusammen essen. Der VGH
würde es erlauben. Die Behörden haben Bedenken. Die Hängepartie für

ein Seniorenzentrum geht weiter. Patientenschützer sind empört.

Steinen/Mannheim (dpa/lsw) - Der Streit um das gemeinsame Essen für
geimpfte Bewohner eines Seniorenzentrums in Südbaden nimmt bizarre
Züge an. Obwohl der Verwaltungsgerichtshof (VGH) in Mannheim nach
einer zunächst abschlägigen Entscheidung das gemeinsame Essen wieder
erlauben würde, ist das Landratsamt Lörrach weiter abwartend. Bis
kommenden Montag, 24.00 Uhr, müssen sich nun die Behörde und auch das
Heim entscheiden, ob sie dem Vergleichsvorschlag des VGH zustimmen,
der grünes Licht für die Kantinenöffnung für Geimpfte in dem Heim
gibt.

Einer Fristverlängerung bis zum 21. April, wie es das Amt wünschte,
erteilte das Gericht am Freitag eine Absage. Das Landratsamt will die
Zeit nun bis Montag nutzen, um in Abstimmung mit dem
Sozialministerium zu klären, ob eine Öffnung mit neuen Empfehlungen
des Robert Koch-Instituts (RKI) vereinbar sei.

Der Anwalt des Seniorenzentrums in Steinen (Landkreis Lörrach) wirft
dem Land Verschleppungstaktik vor. «Das Land schiebt den dringend
gebotenen Grundrechtsschutz für die geimpften Bewohnenden der
Senioreneinrichtung, den inzwischen auch der VGH Baden-Württemberg
mit seinem Vergleichsvorschlag eingeräumt hat, abermals auf die lange
Bank», kritisierte Patrick Heinemann. «Es lässt sich kaum mehr
leugnen, dass das Seniorenzentrum und seine Bewohnenden im Recht sind
- und trotzdem passiert vorerst immer noch nichts.»

Das Sozialministerium wies den Vorwurf der Verzögerung zurück: Das
VGH-Verfahren werfe grundsätzliche Fragen auf, wie mit geimpften
Personen bundesweit umgegangen werden solle und welche Freiheiten
damit verbunden sind. Die aktuellen RKI-Empfehlungen seien sehr
überraschend gekommen, da sie einen erheblichen Kurswechsel bedeuten
würden. Vulnerable Gruppen in Pflegeheimen müssten aufgrund des
höheren Risikos für schwere Verläufe ganz besonders geschützt werde
n.
Gesundheitsminister Manne Lucha (Grüne) hat das
Bundesgesundheitsministerium gebeten, bis Montagmittag Stellung zu
nehmen. «Sollte dies nicht erfolgen, dann wird Baden-Württemberg
fristgerecht eine eigene Regelung auf Landesebene festlegen müssen.»

Heinemann beantragte am Freitag, beim Verwaltungsgericht Freiburg
eine Abänderung eines Beschlusses vom 3. März und das Land
gerichtlich zu verpflichten, die Öffnung der Cafeteria für die
geimpften Bewohner zu gestatten. Er berief sich auf den
VGH-Vergleichsvorschlag. Der Anwalt will durch eine
Gerichtsentscheidung und nicht nur durch einen Vergleich geklärt
haben, dass die Grundrechtseingriffe des Landes in dem Fall
rechtswidrig sind.

Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch,
ist empört über das Hickhack: «Niemand hat mehr Verständnis für
diese
Verschleppungstaktik auf Kosten alter Menschen.» Es sei eigentlich
ein Skandal, der politisch aufgeklärt werden müsse. Der Fall reiche
weit über Südbaden hinaus: Nach 13 Monaten Lockdown seien alle 900
000 Pflegeheimbewohner in Deutschland in einer entsetzlichen
Situation. Er warf dem Land «winkeladvokatisches Vorgehen» vor. Es
blockiere alles auf Kosten der Pflegebedürftigen in Deutschland.

Der Streit um die Kantinen-Öffnung hat schon mehrere Gerichte
beschäftigt. Nach dem Verwaltungsgericht Freiburg hatte auch der VGH
die Öffnung Mitte März zunächst abgelehnt. Dagegen hatte Anwalt
Heinemann eine Anhörungsrüge erhoben und zugleich das
Bundesverfassungsgericht angerufen. Prävention und Infektionsschutz
seien wichtig, hätten aber Grenzen. Die Senioren litten schon seit
einem Jahr massiv unter der Isolation durch die Corona-Maßnahmen.
Heinemann vertritt das Heim sowie einen 79 Jahre alten Bewohner.

Der VGH hatte am Dienstag in einem Vergleichsvorschlag den Betrieb
der Cafeteria für geimpfte oder genesene Bewohner und Mitarbeiter
erlaubt. Er hatte das mit einer Neueinschätzung des Robert
Koch-Instituts begründet, wonach Geimpfte kaum noch ansteckend seien.

Das Landratsamt hatte hingegen am Freitag auf neue RKI-Empfehlungen
zum Kontaktpersonenmanagement sowie für Alten- und
Pflegeeinrichtungen verwiesen, die auch konkrete Empfehlungen für
vollständig geimpfte Personen enthielten. Um zum Vergleichsvorschlag
Stellung zu nehmen, müssten die Empfehlungen auf Landes- und
Bundesebene ausgewertet werden.

Sollten die Beteiligten den Vergleichsvorschlag bis Montag nicht
annehmen, wird der VGH zeitnah über die Anhörungsrüge entscheiden, so

das Gericht.