Aus dem Chaos zum Musterschüler: Großbritannien und die Pandemie Von Larissa Schwedes, dpa

Mit knapp 150 000 Toten ist Großbritannien noch immer eines der am
schwersten von der Pandemie getroffenen Länder. Doch seit einigen
Wochen scheint vieles richtig zu laufen. Eine Bestandsaufnahme aus
einem Land, das seine Lektionen gelernt zu haben scheint.

London (dpa) - Pub-Besitzer in London rollen die ersten Fässer
Richtung Zapfhahn und putzen ihre Sitzmöbel im Biergarten, Friseure
vergeben Termine im Akkord und die Ferienwohnungen in Cornwall sind
so gut wie ausgebucht. In England stehen die Zeichen auf Lockerung.
Am 12. April öffnen unter anderem Biergärten, etliche Geschäfte und

erste Unterkünfte. Währenddessen in Deutschland: Streit um
Modellprojekte, Grübeln über Lockdowns und ihre Bezeichnungen,
außerdem - viel, viel Frust.

Großbritannien zeigt, dass es anders geht. Aber Moment -
Großbritannien!? War da nicht was? Spult man rund drei Monate zurück,
schien undenkbar, dass der Chaot im Klassenzimmer der Pandemie einmal
zum Musterschüler werden könnte. England, das war damals die
Brutstätte einer gefürchteten ansteckenden Variante - ein Ort, vor
dem sich die Welt kurz vor Weihnachten panisch abzuschotten
versuchte. Ein Land mit einer verheerenden Todesbilanz von
mittlerweile fast 150 000 Toten im Zusammenhang mit Corona und einer
Regierung, die in Sachen Pandemiebekämpfung so ziemlich alles falsch
gemacht hatte, was man nur falsch machen konnte. Was ist also
passiert?

Die Antwort liegt nahe: Es wurde geimpft. So viel wie sonst fast
nirgendwo, knapp die Hälfte der Bevölkerung hat mindestens eine erste
Corona-Impfung hinter sich. Die ersehnte Herdenimmunität sei in
greifbarer Nähe, jubelt bereits die erste regierungsnahe Zeitung. Der
Erfolg der britischen Impfkampagne versetzt das Land in eine
Situation, von der der Großteil der Welt bislang nur träumen kann.
Doch das Impfen ist nur ein Teil der Antwort.

Zur Wahrheit gehört auch: Seit Monaten leben die Briten ohne viel
Murren unter Maßnahmen, wie sie in Deutschland selbst in Zeiten des
bis dato härtesten Lockdowns nicht galten: Über Monate hinweg durften

die Menschen - bis auf wenige Ausnahmen - nicht eine einzige Person
außerhalb des eigenen Haushalts treffen und sich auch nicht ohne
triftigen Grund aus dem eigenen Viertel bewegen. «Bleibt zu Hause,
schützt das Gesundheitssystem, rettet Leben», so das allgegenwärtige

Mantra. Private Reisen ins Ausland sind seit Monaten strikt verboten.

Schottland, Wales und Nordirland, die ihre Corona-Maßnahmen
unabhängig von London entscheiden, fahren einen ähnlich harten Kurs.
Wer heute in Großbritannien wohnt, findet sich in der paradoxen
Situation wieder, unter viel härteren Maßnahmen zu leben als etwa
in Deutschland - und das bei einer deutlich entspannteren
Infektionslage. Die Sieben-Tage-Inzidenz lag zuletzt bei 37
Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner in einer Woche. In Deutschland
liegt dieser Wert derzeit über 100.

Spätestens nach dem katastrophalen Winter, in dessen dunklen
Januarwochen man im besonders hart getroffenen London zu den Tönen
von Krankenwagen-Sirenen aufwachte und wieder einschlief, scheint die
konservative Regierung aus ihren Fehlern gelernt zu haben. Im Februar
zeigte Premier Boris Johnson den Menschen in England seinen Weg aus
dem Lockdown auf - und ist seither nicht davon abgewichen.

Offene Schulen seit März, Biergärten und Shoppen ab Mitte April,
private Besuche und möglicherweise Reisen ab Mitte Mai, so sieht es
der «vorsichtige, aber unwiderrufliche Weg» vor, den Johnson nicht
müde wird zu betonen - und auf dessen Zwischenetappen er sich auch
selbst offenbar freut. «Am Montag, den 12., werde ich selbst zu einem
Pub gehen und vorsichtig, aber unwiderruflich, ein Bier an meine
Lippen führen», ließ der Premier am Ostermontag wissen.

Der Lockerungsprozess endet am 21. Juni, an dem der Großteil aller
Corona-Maßnahmen in England aufgehoben werden soll. Ein Datum, mit
dem mittlerweile Textilfirmen für ihre Post-Lockdown-Outfits werben
und Twitter-Accounts die Tage bis zur großen Freiheit zählen.

Das Bemerkenswerte: Der Großteil der Menschen macht mit. Bis auf ein
paar hundert, die sich hin und wieder auf Anti-Lockdown-Demos
versammeln, und einige illegale Partys von Jugendlichen, die die
Polizei jedes Wochenende aufzulösen hat, hält sich der Widerstand in
Grenzen. Vielleicht, weil es eine Perspektive gibt.