Protest vorbei, Debatte nicht - Hätte Demo verhindert werden können? Von Martin Oversohl, dpa

Der Wasen liegt wieder verlassen am Neckarufer. Am Samstag hatten
dort bis zu 15 000 Menschen gegen die Corona-Auflagen gewettert. Was
bleibt? Bilder von Massen ohne Masken. Und eine politische Debatte,
die noch lange nicht vorbei sein dürfte.

Stuttgart (dpa/lsw) - Auch mehrere Tage nach den massenhaften
Verstößen gegen die Corona-Auflagen bei einer
«Querdenker»-Großdemonstration in Stuttgart schieben sich Politik,
Polizei und Stadt die Verantwortung für die Ereignisse gegenseitig
zu. Während der baden-württembergische Gesundheitsminister Manne
Lucha (Grüne) seine Kritik an der Genehmigung der Demonstration
erneuert, verteidigt Stuttgarts Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU)
diese Entscheidung. Spätestens am kommenden Montag werden sich die
beide Seite im Innenausschuss des Landtags erklären müssen.

Rund 15 000 Menschen hatten sich am Karsamstag größtenteils ohne
Masken und Mindestabstand versammelt und die Stadt in große
Erklärungsnot gebracht. Mehr als 1000 Polizisten waren am Samstag
zusammen mit Einheiten aus anderen Bundesländern und der
Bundespolizei im Einsatz gewesen. Sie schritten wegen der Verstöße
gegen die Corona-Regeln aber kaum ein - nicht zum ersten Mal in
Deutschland.

«Die Stadt hätte die Versammlung nicht verbieten dürfen», verteidig
te
sich Stuttgarts Stadtoberhaupt Nopper im Interview mit der
«Stuttgarter Zeitung» und den «Stuttgarter Nachrichten» (Dienstag).

«Es gab vor der Versammlung auf der Grundlage der Anmeldungen
überhaupt keinen rechtlich begründbaren Ansatz, ein
Versammlungsverbot auszusprechen.»

Nopper nannte die Rechtsauffassung des Sozialministeriums «nicht
nachvollziehbar». Es hätte anweisen können, die Demonstration zu
verbieten, sagte er. «Das ist nicht erfolgt. Sie hätten auf den
Infektionsschutz verweisen können.» Aus der Perspektive der
vergangenen Woche habe sich aber keine Verbotslage abgezeichnet.

Er habe die Äußerungen Noppers registriert, sagte Lucha in einem
SWR-Interview. Der Grünen-Politiker zeigte sich zudem besorgt, die
Demonstration an Karsamstag in Stuttgart könne sich im Nachhinein als
«Superspreading»-Event entpuppen. «Natürlich haben wir diese Sorge,

da das ein Personenkreis ist, der aus ganz Deutschland kam», sagte
Lucha. Es werde eine große Herausforderung sein, das einzudämmen.

Innenminister Thomas Strobl (CDU) hatte zuvor ebenso wie die Stadt
eine Aufarbeitung angekündigt. Er will klären, ob solch «gefährlich
e
Veranstaltungen» in der Corona-Pandemie erlaubt werden müssen.

Aus Sicht der Deutschen Polizeigewerkschaft steht das außer Zweifel:
Als Konsequenz der Vorfälle müsse es ein Umdenken bei der Zulassung
von Demonstrationen dieser Größenordnung in der Corona-Pandemie
geben, forderte der Landesvorsitzende der Gewerkschaft, Ralf
Kusterer. Die Rechtsgrundlagen dafür seien vorhanden. «Sollten sie
nicht ausreichen, wie der Stuttgarter Ordnungsbürgermeister sagt,
dann müssen das Land oder der Bund nachjustieren und die
entsprechenden gesetzlichen Grundlagen schaffen.»

Spätestens am Montag wird die Demo auf dem Wasen auch zum Politikum
im Landtag. Der Innenausschuss will sich in einer Sondersitzung
erneut mit den «Querdenkern» beschäftigen. Die SPD hatte einen Antrag

aufgesetzt, Grüne und CDU fordern ebenfalls eine Debatte. «Wir müssen

dafür sorgen, dass in ähnlichen Situationen künftig Klarheit
herrscht», forderte der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion,
Sascha Binder. Es muss klargestellt werden unter welchen
Voraussetzungen Demonstrationen in der Pandemie möglich seien und
unter welchen nicht.

Im Ausschuss sollen sich sowohl Innenminister Strobl als auch
Sozialminister Lucha und der Stuttgarter Oberbürgermeister Nopper zur
Kundgebung äußern. «Wir erwarten Antworten darauf, warum zum Beispiel

die Versammlungsbehörde der Stadt Stuttgart den Empfehlungen des
Sozialministeriums in den Tagen zuvor nicht gefolgt ist», sagte auch
Uli Sckerl von den Grünen. CDU-Innenexperte Thomas Blenke erklärte
für seine Fraktion, der Innenausschuss sei «der richtige Ort für die

Aufarbeitung».

Vom Veranstalter des Protestes, der Bewegung «Querdenken 711» oder
deren Gründer Michael Ballweg, war am Dienstag auf Anfrage keine
Stellungnahme zu erhalten.

Das Landesamt für Verfassungsschutz in Baden-Württemberg beobachtet
die «Querdenken»-Bewegung. Die Behörde ordnet mehrere Akteure dem
Milieu der «Reichsbürger» und «Selbstverwalter» zu, die unter and
erem
demokratische und rechtsstaatliche Strukturen negieren. Die
«Querdenken»-Bewegung weist diese Vorwürfe zurück.