Kritik nach «Querdenker»-Demo gegen Corona-Politik in Stuttgart Von Tatjana Bojic, dpa

Tausende Menschen fast ausnahmslos ohne Mund-Nasen-Schutz und ohne
Mindestabstand gehen in Stuttgart gegen die Corona-Politik auf die
Straße - zum Entsetzen vieler. Das hat ein politisches Nachspiel.

Stuttgart (dpa) - Rund 15 000 Menschen haben sich bei einer
Kundgebung gegen die Corona-Politik in Stuttgart größtenteils ohne
Masken und Mindestabstand versammelt und die Stadt in große
Erklärungsnot gebracht. Diese wehrte sich gegen den Vorwurf, die
Veranstaltungen der «Querdenker» nicht verboten zu haben.
Landessozialministerium, Landesinnenminister Thomas Strobl (CDU) und
die Stadt kündigen eine Aufarbeitung an. Mehr als 1000 Polizisten
waren zusammen mit Einheiten aus anderen Bundesländern und der
Bundespolizei im Einsatz, schritten wegen der Verstöße gegen die
Corona-Regeln aber kaum ein - nicht zum ersten Mal in Deutschland.

In Stuttgart zogen die Demonstranten von der Innenstadt zum
Cannstatter Wasen, wo die «Querdenken»-Bewegung aus Protest gegen die
Corona-Politik zu einer Kundgebung aufgerufen hatte. Eine bunte
Mischung von Menschen lief größtenteils ohne Masken, dicht an dicht.
Viele tranken Bier, es herrschte Volksfeststimmung mit Getrommel und
Gesängen. Nach Angaben des Deutschen Journalisten-Verbands (DJV)
wurden aber auch mehrere Journalisten angegriffen. Stuttgarter
Journalisten des SWR wurden mit einem harten Gegenstand beworfen.
Eine Live-Schalte zum Sender Tagesschau24 musste abgebrochen werden.

Bundesaußenminister Heiko Maas rügte die Kundgebung scharf. Alle
hätten das Recht zu demonstrieren, schrieb der SPD-Politiker auf
Twitter. Beleidigungen und Übergriffe auf Journalisten und
Journalistinnen hätten mit Demonstrationsfreiheit rein gar nichts zu
tun. «Das sind Angriffe auf Pressefreiheit. Sie müssen verfolgt und
geahndet werden.» Marcus Bornheim, erster Chefredakteur ARD-aktuell,
nannte es im Twitter-Kanal der Tagesschau «ein Armutszeugnis», wenn
solche Veranstaltungen genützt würden, um die Pressefreiheit zu
attackieren. «Wir verlangen von der Polizei Aufklärung zu diesen
Vorfällen.» Die Angriffe auf Journalisten kritisierte auch
SWR-Intendant Kai Gniffke. «Die SWR-Mitarbeitenden sind bei ihrer
Arbeit auf Konfrontationen vorbereitet, agieren besonnen und
vermeiden die Eskalation. Sie sind auch nicht empfindlich. Aber es
gibt Grenzen. Wir müssen uns nicht alles bieten lassen», so Gniffke.

Zuletzt hatte am 20. März eine Demonstration gegen die Corona-Politik
in Kassel (Hessen) mit mehr als 20 000 Menschen für Schlagzeilen
gesorgt - erlaubt waren nur 6000. Es kam auch gewalttätigen
Auseinandersetzungen. Viele Teilnehmer hielten sich nicht an Auflagen
wie das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes. Kritiker hatten der Polizei
dort ebenfalls ein zu zurückhaltendes Auftreten vorgeworfen.

Minister Strobl will klären, ob «gefährliche Veranstaltungen» wie
jüngst in Stuttgart in der Corona-Pandemie erlaubt werden müssen.
«Auch die Demonstrationsfreiheit verlangt verantwortungsvolle Bürger.
Unsere Grundrechte sind nicht grenzenlos und rechtfertigen nicht
jedes verantwortungslose Verhalten - schon gar nicht die Gefährdung
der Gesundheit und des Lebens anderer Menschen», sagte er am Montag.
Stuttgarts Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) kündigte an, künftige

Veranstaltungen derselben Anmelder von Demonstrationen gegen die
Corona-Politik wegen Auflagenverstöße verbieten zu wollen.

Zwischen Stadt und Gesundheitsministerium brach am Wochenende ein
offener Streit aus: Das Ministerium hatte vor der Demonstration
gewarnt. «Meine Prognose ist, dass die Hygieneregeln bei der
Veranstaltung nicht eingehalten werden», hatte Ministerialdirektor
Uwe Lahl erklärt. Ordnungsbürgermeister Clemens Maier (Freie Wähler)

sieht das anders und verteidigt die Strategie von Stadt und Polizei.
«Ich glaube, wir haben das Beste daraus gemacht.» Die SPD-Fraktion
beantragte eine Sondersitzung des Innenausschusses im Landtag

Der Sprecher der Stuttgarter Polizei, Stefan Keilbach, sagte: «Wir
haben von vornherein gewusst, dass wir nicht nur in der Vorbereitung,
sondern auch beim Ausführen zwischen den Stühlen sitzen. Das war eine
belastende Aufgabe. Der Einsatz selbst war friedlich.» Laut Polizei
wurden zunächst 254 Corona-Verstöße geahndet.

Das Landesamt für Verfassungsschutz in Baden-Württemberg beobachtet
die «Querdenken»-Bewegung. Die Behörde ordnet mehrere Akteure dem
Milieu der «Reichsbürger» und «Selbstverwalter» zu, die unter and
erem
demokratische und rechtsstaatliche Strukturen negieren. Die
«Querdenken»-Bewegung weist diese Vorwürfe zurück.