Virologe Fickenscher: Eingreifen des Bundes in Pandemie absehbar

Die Warnrufe in der Corona-Pandemie werden immer lauter. Der Kieler
Virologe Fickenscher hält sie für berechtigt und sieht
Handlungsbedarf in Deutschland. Zurückhaltend betrachtet er die
aktuellen Aussichten für geplante Modellprojekte.

Kiel (dpa/lno) - Der Infektionsmediziner Helmut Fickenscher hält
angesichts der stark steigenden Corona-Zahlen in Deutschland und der
Haltung einiger Länder ein Eingreifen des Bundes für absehbar. «Für

Deutschland insgesamt sehe ich Handlungsbedarf», sagte der Präsident
der Deutschen Vereinigung zur Bekämpfung der Viruskrankheiten der
Deutschen Presse-Agentur. «Die großen Warnrufe sind da nicht so
wirklich falsch.» Kanzlerin Angela Merkel hatte erklärt, sie denke
über klarere Vorgaben an die Länder nach. Sie werde nicht zuschauen,
bis es 100 000 Neuinfektionen am Tag gebe. Die gesetzlich geforderte
Eindämmung des Infektionsgeschehens sei nicht erreicht.

Schleswig-Holstein habe mit der niedrigsten Sieben-Tage-Inzidenz in
Deutschland noch eine sehr klare Sonderrolle, sagte Fickenscher, der
in Kiel am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein das Institut für
Infektionsmedizin leitet. «Wenn aber Entscheidungen bundesweiter
Tragweite notwendig sein sollten, wird sich Schleswig-Holstein nicht
verschließen können.»

Die letzten Beratungen der Bundesregierung mit den
Ministerpräsidenten seien ja eher ungünstig verlaufen, sagte der
Virologe. «Das ist schon etwas alarmierend und wenn man sich nicht
einigen kann, dann ist es schwer, dieses Gremium als
Entscheidungsgremium zu nutzen.» In dieser Bredouille stecke jetzt
wohl die Bundesregierung. «Und wenn das Saarland das ganze Bundesland
zur Modellregion machen will, ist das eine «besondere
Provokationslage.»

Jetzt Modellprojekte zu planen, wie sie auch Schleswig-Holstein ab
19. April für Tourismus, Kultur und Sport vorsieht, ist für
Fickenscher «letztendlich eine optimistische Sichtweise». Bei
steigenden Inzidenzen sei auch deren Nutzen sehr begrenzt. «Ich halte
es für möglich, dass die Basis für die Modellprojekte in Kürze
vorerst ausgesetzt wird, sollte sich die Bundesregierung für
konsequentere Maßnahmen entscheiden.»

Da in allen Staaten um Deutschland herum die Infektionszahlen
stiegen, sei dies auch hier zu befürchten, sagte Fickenscher. Für
Hotspots mit weit höheren Zahlen als derzeit in Schleswig-Holstein
halte er auch Ausgangssperren als Instrument für sehr plausibel,
sagte Fickenscher. In Flensburg hatte es im Februar bei Inzidenzen
nahe 200 und einer starken Verbreitung der britischen Virusvariante
für kurze Zeit ein nächtliches Ausgehverbot und ein Verbot privater
Treffen gegeben.

«Da hat man gesehen, dass dies letztlich eine wirksame Maßnahme ist»,

sagte Fickenscher. «Im Sinne des Infektionsschutzes kommt dieses
Instrument sehr wohl infrage, auch wenn es niemand haben will.» Auch
Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) hat Ausgangssperren kürzlich
nicht ausgeschlossen.

«In erstaunlich vielen Landkreisen und Städten mit sehr hohen
Inzidenzen in Deutschland gewinnt man den Eindruck, dass die
Konsequenz von Maßnahmen nicht groß genug ist», sagte Fickenscher.
«Wir in Schleswig-Holstein sitzen da insgesamt eher noch auf einer
Insel der Seligen.»

Bei einer Inzidenz von über 100 werde eine wichtige Frage der Umgang
mit Schulen und Kitas sein. «Ausbrüche dort sind weiterhin sehr
selten», sagte der Virologe. Personal und Behörden seien mittlerweile
sehr gut geschult und agierten sehr professionell. «Solange die Zahl
der Ausbrüche in Schulen und Kindergärten niedrig bleibt und es sich
meist nur um Einzelpersonen handelt, die keine weiteren infizieren,
rate ich dazu, Kindergärten und Schulen geöffnet zu halten.»

Die Verbreitung möglicherweise besonders gefährlicher Virus-Varianten
dürfe nicht dazu führen, die einfachen Schutzmaßnahmen zu
vernachlässigen, betonte Fickenscher. «Das wäre völlig falsch, denn

die Schutzmaßnahmen gelten gegen die neuen Varianten ebenfalls.»