Vor 60 Jahren: Gagarin fliegt als erster Mensch ins All Von Christian Thiele, dpa
In 108 Minuten umrundet Juri Gagarin die Erde. Er schreibt damit 1961
Geschichte und verärgert zugleich die USA. Die Sowjetunion hat einen
neuen Helden. Was ist von Gagarin heute geblieben?
Moskau (dpa) - Als der erste Mensch im All vor 60 Jahren wieder Boden
unter den Füßen hat, wird er zunächst für einen Außerirdischen
gehalten. Juri Gagarin überrascht damals die Förstersfrau Anna
Tachtarowa mit ihrer Enkelin beim Kartoffelpflanzen auf einem Feld,
weil sich die sowjetischen Raumfahrtingenieure beim Landeplatz
um Hunderte Kilometer verrechnet hatten. Wegen des orangen Raumanzugs
und des weißen Helms halten sie Gagarin für ein «Monster», wie die
russische Boulevardzeitung «Komsomolskaja Prawda» schreibt. Der
Kosmonaut ruft ihnen aber zu: «Ich bin einer von Euch!»
Russland erinnert in diesen Tagen mit viel Pathos an seinen Helden,
der am 12. April 1961 Raumfahrtgeschichte schreibt. In 108 Minuten
umrundet der Kampfpilot im Alter von 27 Jahren einmal die Erde. Er
sieht damit als erster Mensch den Planeten von oben - nachdem die
Sowjets schon einen Satelliten und Hunde ins All geschickt haben. Es
ist ein Meilenstein für die Sowjetunion und ein Schock für die USA
im Wettlauf der Supermächte im Kalten Krieg. Die kommunistische
Propaganda schlachtet dies als Sieg über den Kapitalismus aus.
Was damals aber verheimlicht wird: Bei dem Flug läuft nicht alles
glatt. «In 10 von den 108 Minuten stand Juri Gagarin kurz vor dem
Tod», schreibt die Regierungszeitung «Rossijskaja Gaseta» Jahrzehnte
später. Beim Eintritt in die Erdatmosphäre löst sich die Landekapsel
nicht wie vorgesehen vom Geräteteil des Raumschiffs «Wostok» (Osten).
Sie dockt nur deshalb schließlich ab, weil beim Eintritt in die
Erdatmosphäre nicht abgetrennte Verbindungskabel durchbrennen.
Auch beim Landen an der Wolga im Süden gibt es eine Panne: Ein
Fallschirm löst sich und verheddert sich dabei nur durch Glück nicht
in dem Hauptfallschirm. Ansonsten hätte es Gagarin wohl sein Leben
gekostet. Seine Landekapsel sollte eigentlich bei Wolgograd 900
Kilometer südöstlich von Moskau aufsetzen, landet stattdessen aber
nahe der nördlich gelegenen Stadt Saratow.
Juri Alexejewitsch Gagarin hat damals durchaus einkalkuliert, dass
sein Pionierflug tragisch enden könnte. Mehrere Testraketen sind
zuvor schon beim Start explodiert. Gagarin schreibt vor seinem Flug
einen Abschiedsbrief an seine Frau Valentina: «Ich habe ehrlich
gelebt und zum Nutzen der Menschen - auch, wenn dieser Nutzen klein
war», heißt es in einem Buch über den Raumfahrer.
Der Sohn einer Bäuerin und eines Tischlers wird am 9. März 1934
im Dorf Kluschino im Westen Russlands geboren. Bei Moskau lernt er
den Beruf des Gießers, wird später Pilot bei den Luftstreitkräften.
Der Flug ins All macht ihn über Nacht international berühmt.
Nach seinem spektakulären Flug machen Gerüchte von Wodka-Exzessen und
Frauengeschichten die Runde. Am 27. März 1968 stürzt er beim Test
eines Jagdflugzeugs vom Typ MiG-15 UTI bei Moskau ab. Um seinen
tragischen Tod ranken sich viele Legenden, weil die Umstände des
Unglücks lange geheim geblieben sind. Gagarins Urne wird bei einem
Staatsbegräbnis in der Kremlmauer beigesetzt.
Bis heute ist der nur etwa 1,65 Meter große Kosmonaut und
Frauenschwarm mit seinem charmanten Lächeln unvergessen. Es gibt in
Russland unzählige Gagarin-Denkmäler und eine Stadt, die nach ihm
benannt ist. In vielen Ländern haben Straßen seinen Namen, auch in
Deutschland. Und seinen Namen trägt auch eine Sojus-Rakete, die am
vergangenen Freitag drei Raumfahrer zur Internationalen Raumstation
ISS bringt. Der Flug ist dem Weltraumpionier gewidmet.
Wenn heute Raumfahrer zur ISS wie damals Gagarin vom russischen
Weltraumbahnhof Baikonur - in der Republik Kasachstan - aufbrechen,
dann gibt es Rituale in Erinnerung an den ersten Weltraumflug: neben
dem Pflanzen eines Baums «pinkeln» die Raumfahrer gegen die Reifen
eines Busses, wie es der erste Kosmonaut vor 60 Jahren getan hat.
«Nach dem Tod Gagarins ist unterschiedlich mit seiner Person
umgegangen worden, je nachdem wie seine Popularität in die jeweilige
Zeit gepasst hat», sagt der Berliner Historiker Arnd Bauerkämper der
Deutschen Presse-Agentur. Unter dem Ex-Präsidenten Boris Jelzin
(1931-2007) habe der Kosmonaut zum Beispiel keine größere Rolle
gespielt. «Jelzin wollte sich vom Sowjet-Erbe distanzieren», meint
Bauerkämper, der an der Freien Universität Berlin lehrt. Anders sei
das bei Kremlchef Wladimir Putin, der das Nationalpolitische betone.
«Gagarins Flug wirkt bis heute nach», sagt der Historiker. Der
Kosmonaut prägt damals den Begriff des «blauen Planeten» und schwär
mt
bei seinem Flug: «Ich sehe die Erde! Sie ist so wunderschön!» Damals
wie heute ist der Kosmonaut zugleich ein Hoffnungssymbol vieler
junger Menschen. Nach dem Motto: Jeder kann ins All fliegen, wenn er
die dafür Eignung hat - selbst ein einfacher Junge aus der Provinz.
Für Russland sei die Erinnerung an den «Kolumbus des Kosmos» nicht
zuletzt deshalb wichtig, weil sein Flug eine Demütigung für die USA
gewesen sei, sagt Bauerkämper. Schon 1957 seien die Sowjets mit dem
ersten Satelliten (Sputnik 1) eher im All gewesen als die Amerikaner.
2020 gab Russland in Erinnerung daran seinem Corona-Impfstoff den
Namen Sputnik V (V wie Vakzin) - das weltweit erste für eine breite
Anwendung in der Bevölkerung registrierte Vakzin. Doch 1969 war es
der Amerikaner Neil Armstrong, der als erster Mensch den Mond betrat.
Was ist noch von Gagarin geblieben? Es gibt einen Mondkrater und
einen Asteroid mit seinem Namen. Auf der Erde ziert sein Konterfei
viele T-Shirts, Tassen und Kalender - ein Geschäft, an dem sich noch
immer gut verdienen lässt. Als Markenname geschützt ist Gagarins
Spruch «Pojechali!» («Los geht's»). Das meldet er damals der
Bodenstation, bevor er ins All aufbricht.