) Wieder Streit um Tübinger Modell - Lauterbach fordert Stopp

Seine Zweifel am Tübinger Modellprojekt formuliert der
SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach nicht zum ersten Mal. Dieses
Mal könnten sie die Tübinger aber stärker schmerzen. Denn neue Zahlen

zeigen, dass auch der Sonderweg nicht risikolos ist.

Tübingen (dpa) - Nach Zweifeln an einem Erfolg des bundesweit
beachteten Modellprojekts in Tübingen mit Öffnungsschritten und
verstärkten Tests fordert der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach
einen Stopp dieser Versuche. «Sie geben das falsche Signal», schrieb
Lauterbach am Dienstag auf Twitter. Das Tübinger Projekt zeige, dass
unsystematisches Testen mit Öffnungsstrategien die schwere dritte
Corona-Welle nicht aufhalten werde. ««Testen statt Lockdown» ist
Wunschdenken, genau wie «Abnehmen durch Essen».»

Er plädierte für eine Ausgangsbeschränkung und die «Notbremse», u
m
das Wachstum der Sieben-Tage-Inzidenz zu stoppen. Sie misst die Zahl
der registrierten Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner binnen einer
Woche. Außerdem müsse es möglich werden, Cluster über die Pflicht z
ur
Testung in Betrieben und Schulen schnell zu erkennen. «So schafft man
die Voraussetzung für Lockerungen», twitterte der
Bundestagsabgeordnete. «Das Projekt senkt Inzidenz leider nicht»,
schrieb er weiter.

Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) hatte am
Montagabend eingeräumt, in der Modellkommune Tübingen seien die
Corona-Fallzahlen stark gestiegen. Der Anstieg sei jedoch in etwa so
hoch wie dort, wo mit Schließungen gearbeitet werde, hatte der
OB gesagt. Der Anstieg mache ihm keine Sorgen. Auch am Dienstag sah
er keinen Grund, das Projekt zu beenden. Die Sieben-Tage-Inzidenz
liege im Bundesvergleich «immer noch günstig», sagte er dem SWR.

Die «Stuttgarter Zeitung» und die «Stuttgarter Nachrichten» zitiert
en
am Dienstag aus einem Zwischenbericht Palmers ans Sozialministerium,
in dem der Grünen-Politiker für eine Fortsetzung des Projekts warb.
Zwar sei die Entwicklung der Fallzahlen inzwischen kritischer zu
bewerten als bisher. Doch noch gebe es keine Hinweise, dass die
kontrollierten Öffnungen zu einem Anstieg der Infektionszahlen
geführt hätten. «Dies kann aber angesichts der stark gestiegenen
Inzidenz insgesamt auch nicht mehr sicher ausgeschlossen werden.»

Palmer schrieb demnach weiter: «Statt eines Abbruchs des Projekts
wäre die Einführung zusätzlicher Testpflichten erwägenswert.» Dem

Bericht zufolge würde Palmer gerne in Betrieben und Schulen zweimal
pro Woche schnelltesten lassen. Es sei zweckmäßig, den Verlauf der
Karwoche und der Ostertage abzuwarten und über die Fortsetzung des
Projekts am 6. April nach Vorlage eines weiteren Zwischenberichts zu
entscheiden, zitierten die Zeitungen Palmer weiter.

Palmer appellierte an Auswärtige, die Stadt erstmal nicht zu
besuchen. Man wolle herausfinden, ob sich das Infektionsgeschehen in
einer Stadt mit engmaschigen Tests unter Kontrolle bringen lasse,
teilte er mit. «Tagesgäste, die sonst nie hier sind, stören den
Versuch und zerstören die Akzeptanz bei den Tübingern. Daher fordere
ich alle Gäste, die nur wegen des Öffnungsversuches nach Tübingen
reisen wollen, jetzt auf, der Stadt fern zu bleiben.»

Auch laut der Pandemiebeauftragten der Neckarstadt, Lisa Federle,
halten sich Menschen teilweise nicht an die Regeln. «Wir müssen da
stärker kontrollieren und müssen auch mehr Einschränkungen machen»,

sagte Federle im Interview mit RTL/ntv. Viele trügen in der Stadt
keine Masken mehr und hielten sich nicht an Abstandsregeln. «Das ist
nicht Sinn der Sache. Getestet werden bedeutet nicht, ich kann tun
und lassen was ich will», sagte Federle. Ein positiver Effekt der
Schnellteststrategie sei aber, dass es in Tübingen eine sehr niedrige
Dunkelziffer von Infizierten gebe. Im Schnitt sei einer von 1000
Getesteten positiv. «Wir haben mindestens 40 000 Tests letzte Woche
gemacht. Wir haben 40 Positive rausgeholt.»

Lauterbach ist bekannt für seine Kritik am Tübinger Sonderweg. Palmer
und Federle hatten diese zunächst zurückgewiesen und ihm vorgeworfen,
die Zahlen von Stadt und Kreis zu verwechseln. Der
SPD-Gesundheitsexperte nannte das Argument auf Twitter allerdings
«epidemiologisch Unsinn». Menschen aus dem ganzen Landkreis würden in

der Stadt shoppen, auch das Gastro- und Verkaufspersonal lebe dort.

In Tübingen läuft seit Mitte März ein Modellprojekt zu mehr
Öffnungsschritten in Corona-Zeiten. An neun Teststationen können die
Menschen kostenlose Tests machen, das Ergebnis wird bescheinigt.
Damit kann man in Läden, zum Friseur oder auch in Theater und Museen.

Auch in zahlreichen anderen Kreisen, Städten und Gemeinden in
Deutschland werden ähnliche oder andere Modelle entworfen, um eine
Corona-Öffnung trotz steigender Zahlen zu beschleunigen. Im Tübinger
Modell sehen Dutzende Kommunen einen Hoffnungsschimmer. Sie haben
sich bereits beim Land beworben als Modellregionen oder haben es noch
vor. Ihr Ziel ist es, möglichst bald Perspektiven zu haben - nicht
nur für die Lockdown-müden Menschen, sondern auch für Hotels,
Restaurant, Museen und die Kultur. Allerdings gibt es auch bereits
erste Absagen des Landes.