Wenn Verzweiflung in Lebensmüdigkeit umschlägt - Vereine helfen

Wer vor der Coronakrise in gewaltigen Schwierigkeiten steckte, der
kann in der Pandemie an seine Grenzen kommen. Manche Menschen sehen
dann keinen anderen Ausweg als den Suizid. Gerade für sie gibt es im
ganzen Südwesten Anlaufstellen.

Stuttgart (dpa/lsw) - Die Coronakrise belastet nach Erfahrungen aus
der Suizidprävention junge Menschen zwischen 20 und 35 besonders.
«Bei ihnen bricht das meiste weg - Partys, Sport, Vereinsleben, Kino
oder der Austausch mit Gleichaltrigen in Ausbildung und Studium»,
erläutert Christa Wenzelburger vom Arbeitskreis Leben - Hilfe in
Lebenskrisen und bei Selbsttötungsgefahr in Stuttgart. Insbesondere
jungen Frauen mache die Situation schwer zu schaffen. Sie reagierten
mit einer erhöhten Zahl von Suizidversuchen darauf, doch sei die Zahl
der realisierten Selbsttötungen bei den Männern dieser Altersgruppe
höher als bei den Frauen.

Bei telefonischen Beratungen und persönlichen Gesprächen stehe das
Leiden an der pandemiebedingten Isolation im Vordergrund, hat
Wenzelburger bemerkt. Das gelte auch für allein lebende Senioren und
psychisch Kranke, denen alltagsstrukturierende Angebote fehlten. Die
Ungewissheit über die Dauer der Krise zermürbe die Menschen überdies.

Die langfristigen Folgen seien noch nicht abzusehen.

In Deutschland nehmen sich jedes Jahr mehr als 10 000 Menschen das
Leben - das sind mehr als doppelt so viele wie Todesfälle im
Straßenverkehr. Die Zahl im Südwesten pendelt seit Jahren um die
1300.

Der Stuttgarter Verein versucht, Menschen vom Suizid abzuhalten (51
Prozent der Fälle), Angehörigen von Menschen zu helfen, die an Suizid
denken oder diesen bereits ausgeführt haben (16 Prozent); ein knappes
Drittel der Hilfesuchenden braucht Unterstützung nach einem
Suizidversuch. Im Jahr 2020 nahmen 390 Menschen Kontakt zu der
Anlaufstelle auf.

Die zehn Arbeitskreise im Südwesten vermitteln speziell geschulte
Krisenberater für längere Betreuung. «Aber auch Freunde und Familien

kommen in Frage, wenn sie zuhören und Gespräche führen wollen», sag
t
Wenzelburger. Vertrauen und Verständnis seien wichtig für die
Betroffenen. Zugleich wollen die Vereine der Tabuisierung des Suizids
entgegenwirken, indem sie ihn als einen Versuch der Psyche begreifen,
mit einem extremen inneren Konflikt umzugehen.

Corona wirkt sich nach Worten der Sozialarbeiterin besonders
verheerend aus, wenn die Lage von Menschen schon vor der Pandemie
schwierig war, etwa aufgrund von Geldsorgen, Arbeitslosigkeit,
Beziehungsproblemen oder Krankheit. «Durch Corona sind den Menschen
die Kompensationsmöglichkeiten für ihre angespannte Lage genommen
worden, etwa Sport, Singen, Tanzen - das belastet sehr», betont die
Expertin. Die Arbeitskreise werden vom Land, den Kommunen und
Eigenmitteln finanziert.

Mehr Frauen suchen Hilfe als Männer: Letztere machen die Probleme
eher mit sich selbst aus, Frauen suchen eher die Unterstützung
anderer Menschen. Männer machen ein Drittel aller Ratsuchenden aus,
aber schreiten häufiger zur Tat. Von den jährlich rund 1300 Suiziden
im Südwesten entfallen um die 300 auf Frauen.