Staat in der Krise - Merkels Machtwort und die Kritik am Coronakurs Von Basil Wegener, dpa

Zieht die Kanzlerin die Notbremse für den föderalen Flickenteppich?
Angela Merkels Länder-Schelte ist nur der jüngste Höhepunkt des seit

Tagen wachsenden Frustes über das staatliche Agieren in der Krise.
Manche Schwächen sind aus Sicht von Kritikern seit Langem absehbar.

Berlin (dpa) - Der Staat muss nach Ansicht von Kritikern sein
Krisenmanagement so schnell wie möglich verbessern. Mit ihrem
Machtwort bei Anne Will in der ARD setzte sich Kanzlerin Angela
Merkel (CDU) an die Spitze der Kritik am uneinheitlichen Krisenkurs.
Merkel las am Sonntagabend angesichts immer steiler steigender
Infektionskurven den deutschen Bundesländern mit Öffnungsabsichten
die Leviten und kündigte mögliche bundeseinheitliche Regelungen an.
Doch Sorgen um schädliche Folgen der Bund-Länder-Politik in der
Pandemie sind schon vorher gewachsen.

So fordert Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus (CDU) bereits länger
grundsätzlich, den Föderalismus auf den Prüfstand zu stellen. Der
Chef des Beamtenbunds dbb, Ulrich Silberbach, sagte nun der Deutschen
Presse-Agentur: «Wir sehen gerade auf dramatische Weise: Der deutsche
Staat kann keine Pandemie.» Silberbach, seit Jahrzehnten in der
Verwaltung zuhause, fordert ein Bündel von Gegenmaßnahmen.

Bei Merkel rücken die galoppierenden Coronazahlen und die Gefahr von
immer mehr Covid-Toten die Frage nach vorne, wie die Länder bei der
Notbremse und möglichen Verschärfungen auf einheitliche Linie
gebracht werden können. Auch Silberbach sagt: «Ein großes Problem ist

der Flickenteppich an Zuständigkeit - bis hin zu den Regierungschefs
von Bund und Ländern.» Kompetenzgerangel und Haftungsfragen sieht der
Gewerkschafter und Verwaltungsexperte als die Haupthindernisse für
wirkungsvolle Kriseneindämmung. Doch auch jenseits der politischen
Leitungsebene sieht der Gewerkschafter hier vieles im Argen liegen.

WAS SCHIEF LÄUFT:

«Die Verwaltung muss viel zu viele Vorgaben auch in der Krise
minutiös befolgen», sagt Silberbach. Möglichkeiten zu übergreifende
n
und ad hoc getroffenen Entscheidungen gebe es kaum. «Wir sind sehr
gut, wenn Vorgänge vorher schon geregelt und Strukturen aufgebaut
sind», sagt Silberbach. So zahle die Bundesagentur für Arbeit völlig

reibungslos millionenfach Kurzarbeitergeld aus. «Aber Deutschland
kann sich nicht gut auf große unvorhergesehene Ereignisse
einstellen.» Brinkhaus hatte zu viele Entscheidungsebenen, zu
langsame Verwaltungsabläufe und zu komplizierte Genehmigungsverfahren
kritisiert.

WIE ES BESSER LAUFEN KÖNNTE:

«Von der politischen Ebene müssen die Menschen etwas anderes erwarten
können als Improvisationstheater», mahnt Silberbach. Gefragt seien
jetzt klare Regelungen und Agilität. Brinkhaus preschte bereits vor
Tagen mit der Forderung einer umfassenden Modernisierung des
Staatswesens vor. «Wir brauchen Mechanismen, wie wir schneller werden
und Verantwortung klarer zuordnen können», hatte er in einer Talkshow
gesagt. Silberbach sieht eine Ertüchtigung der Bürokratie aber auch
in anderer Hinsicht als Gebot der Stunde an.

WAS DIE VERWALTUNG BRAUCHT:

Aus Sicht des Gewerkschafters sind vor allem zwei Dinge
vordringlich: Digitalisierung und Personal. Die Faxe, mit deren Hilfe
Gesundheitsämter Daten zu Corona-Infizierten übermittelten, sind
längst zum Sinnbild teils veralteter Technik in deutschen Amtsstuben
geworden. Digitaltechnik fehle an allen Ecken und Enden. Doch
Silberbach warnt vor der Vorstellung, durch deren Einsatz könnten
Stellen gespart werden. «Die von Arbeitsroutinen entlasteten
Kolleginnen und Kollegen brauchen wir dringend für mehr Beratung,
Service und Bürgerkontakt.»

PERSONALLÜCKEN:

Nach Schätzung des dbb beamtenbund und tarifunion fehlen dem Staat
derzeit fast 330 000 Mitarbeiter - allein 145 000 in den Kommunen,
hier schwerpunktmäßig den Kitas, 45 000 in der Kranken- und
Altenpflege, 38 000 an den Schulen und 27 000 bei der Bundespolizei.
Und fast jeder Dritte gehe innerhalb der nächsten zehn Jahre in den
Ruhestand. «Niemand kann sagen, dass das keiner gewusst hätte», sagt

Silberbach. Der Bedarf wachse seit Jahren um zehn Prozent im Jahr.
Bund, Länder und Kommunen steuerten viel zu wenig gegen die
Abwärtsspirale an. So seien Experten aus den Bereichen IT, Technik,
Mathematik oder Statistik für öffentliche Arbeitgeber nur sehr schwer
zu finden. «Oft legt eine Kommune dann eben 1000 Euro extra drauf, um
überhaupt jemanden zu bekommen», so Silberbach. «Das kann aber nicht

das Prinzip vorausschauenden staatlichen Handelns sein.»