Müller will nicht alles zurückdrehen - fordert aber eine Impfdebatte

Die Corona-Infektionszahlen steigen. Und die Politik überlegt
fieberhaft, was nun zu tun ist. Einen Weg schließt Berlins
Regierender Bürgermeister aus. Doch was ist mit der Notbremse?

Berlin (dpa/bb) - Trotz stark steigender Corona-Infektionszahlen
müssen die Menschen in Berlin vorerst wohl nicht damit rechnen, dass
sämtliche Lockerungen der vergangenen Wochen zurückgenommen werden.
«Ich glaube, dass es kein gangbarer Weg ist, jetzt wieder alles
zurückzudrehen, was wir uns in den letzten Tagen und Wochen an
Möglichkeiten und Freiheiten erkämpft haben», sagte der Regierende
Bürgermeister Michael Müller (SPD) am Donnerstag in einer
Regierungserklärung im Abgeordnetenhaus.

Vielmehr gebe es durch das Impfen und Testen neue Möglichkeiten, so
dass man nicht mehr wie in der Vergangenheit ausschließlich mit
einschränkenden Maßnahmen reagieren müsse. Müller stellte eine
Ausweitung von Testmöglichkeiten und Änderungen der Impfstrategie
insbesondere mit schnelleren Impfungen für Jüngere in Aussicht. Die
Unternehmen will er zu Testangeboten für ihre Beschäftigten sowie zu
mehr Homeoffice verpflichten. Am Samstag berät der Senat bei einer
Sondersitzung über das weitere Vorgehen.

Der Regierungschef ließ offen, ob und in welcher Form der Bund-
Länder-Beschluss einer sogenannten Notbremse in Berlin zum Tragen
kommt. Bei den Beratungen mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) in der
Nacht zum Dienstag war noch einmal bekräftigt worden, dass
Lockerungen der letzten Wochen bei stabiler Inzidenz von über 100
Neuinfektionen je 100 000 Einwohner binnen sieben Tagen in einem
Bundesland oder einer Region zurückgenommen werden. In Regionen mit
einer Inzidenz von über 100 sollen Beschränkungen laut
Bund-Länder-Beschluss sogar verschärft werden.

In Berlin lag die Sieben-Tage-Inzidenz am Mittwoch bei 118,2 nach
102,3 am Vortag. Zu den jüngsten Lockerungen, die unter eine
Notbremse fallen könnten, zählen offene Blumenläden und Gartenmärkt
e,
erweiterte Einkaufsmöglichkeiten auch in anderen Geschäften, offene
Kosmetiksalons und offene Museen oder Galerien.

Als zentralen Punkt beim weiteren Vorgehen des Senats nannte Müller
die Teststrategie, schon jetzt gebe es 130 Teststationen in der
Stadt. «Wir müssen die Testmöglichkeiten weiter ausbauen und werden
sie weiter ausbauen», kündigte er an. Ziel sei ein niedrigschwelliges
Angebot «zum Beispiel in Verbindung mit Einkaufsmöglichkeiten».
Geprüft werde auch, Selbsttests an bedürftige Bevölkerungsgruppen zu

verteilen, damit sich Menschen immer wieder testen könnten.

«Wir werden darüber reden, ob wir über eine Verschärfung der
Maskenpflicht oder eine Ausweitung der Maskenqualität noch zusätzlich
Sicherheit gewinnen im Zusammentreffen der Menschen und im
öffentlichen Leben», kündigte Müller weiter an. In jedem Fall wolle

der Senat seinen «besonnenen Weg» in der Pandemie weitergehen. «Es
bleibt immer eine Gratwanderung und Abwägung, ein Abwägungsprozess
zwischen Nötigem, Machbarem und Wünschenswertem.»

Müller bekräftigte den Senatsbeschluss vom Dienstag, die Unternehmen
zu einem Testangebot für ihre Beschäftigten zu verpflichten, wenn
diese nicht im Homeoffice arbeiten. Er kündigte auch eine Pflicht für
Unternehmen an, mehr Homeoffice-Angebote zu machen. Denn es gebe eine
eindeutige Erkenntnis: «Infektionsketten entstehen an den Stellen, wo
man sich sicher glaubt: Im privaten Bereich und am Arbeitsplatz.
(...) Und diese Sorglosigkeit führt zu dramatisch ansteigenden
Zahlen. Und deshalb müssen wir an dieser Stelle eingreifen.»

«Der Einsatz von Testkapazitäten ist deshalb von entscheidender
Bedeutung, weil mit den Tests schnell positive Fälle erkannt werden
können und Infektionsketten durchbrochen werden können», fügte er
hinzu. Die Unternehmensverbände Berlin-Brandenburg sehen eine
Testpflicht kritisch: «Die zentralen Probleme sind die mangelnde
Verfügbarkeit von Tests und ihre Finanzierung», sagte
Hauptgeschäftsführer Christian Amsinck.

Zum Vorgehen beim Impfen sagte Müller, über kurz oder lang werde der
Punkt kommen, an dem darüber geredet werden müsse, die bisherige
Priorisierung aufzugeben und neue Schwerpunkte zu setzen. Von den
Wissenschaftlern, mit denen der Senat im Gespräch sei, gebe es die
Empfehlung, die Infektionsketten bei besonders mobilen
Bevölkerungsgruppen zu durchbrechen.

«Was heißt das eigentlich?», fragte Müller. Und gab selbst die
Antwort: «Dass wir vielleicht jetzt darüber diskutieren müssen, ob
wir als nächstes die Studierenden oder die Auszubildenden oder andere
Jüngere mit reinnehmen in unsere Impfstrategie und entsprechend
schneller impfen.»

Müller verwies darauf, dass aktuell noch ausreichend Impfstoff fehle.
«Wir verwalten hier im Moment einen Mangel. Und das machen wir, so
gut es geht. Wir könnten pro Tag 20 000 Impfungen vornehmen und
kommen gerade mal auf 10 000 Impfungen», sagte er. «Es ist nach wie
vor zu wenig Impfstoff, den wir zur Verfügung haben. Wir müssen
deswegen sehen, wie wir, bis wir mehr Kapazitäten bekommen, diese
Impfstoffe flexibler einsetzen.»

Gleichzeitig unterstrich er: «Es ist mitnichten so, dass wir
Impfstoff rumliegen lassen.» Es gebe aber weiter Zurückhaltung bei
dem Vakzin von Astrazeneca, das wegen möglicher Nebenwirkungen
zwischenzeitlich nochmals von den zuständigen Behörden überprüft, a
m
Ende aber weiterhin empfohlen wurde. Berlin habe bisher 163 000 Dosen
davon bekommen, so Müller. 54 000 seien an Krankenhäuser, 34 000 an
Arztpraxen gegangen, 47 000 in Impfzentren verwendet worden.

Müller räumte ein, dass die Entscheidung über die inzwischen
zurückgenommene Osterruhe-Regelung falsch gewesen sei. «Es gibt einen
großen Vertrauensbruch zwischen den Bürgerinnen und Bürgern in
unserem Land und den politisch Verantwortlichen.» Auch er habe zur
Verunsicherung beigetragen. «Und es tut mir leid.» Kanzlerin Merkel
hatte die am Dienstag zwischen Bund und Ländern vereinbarte
Osterruhe-Regelung am Mittwoch überraschend wieder gekippt und sich
bei den Bürgern entschuldigt.