Corona-Hotspot Brasilien: Die Angst vor neuen Varianten Von Martina Farmbauer, dpa

Brasilien ist nach den USA das von der Corona-Pandemie am
zweitstärksten betroffene Land. Mehr als zwölf Millionen Menschen
haben sich infiziert, mehr als 300 000 sind schon gestorben. Die
Proteste gegen Präsident Bolsonaro werden lauter.

Rio de Janeiro (dpa) - Vor dem Hospital Ronaldo Gazzola im Norden Rio
de Janeiros liegen 30 Matten mit Leintüchern, mit Kopfkissen und auch
mit Rosen. Die Matten sollen Krankenhausbetten versinnbildlichen, in
denen Covid-19-Patienten behandelt werden. Mit den Blumen wird an
Menschen erinnert, die an Corona gestorben sind. Es kommen viele
Leute vorbei, um eine Rose niederzulegen.

Aber es geht nicht nur ums Gedenken. Antonio Carlos Casto, Chef der
Nichtregierungsorganisation Rio de Paz, sagt: »«Wir sind hier, um
Grundlegendes zu fordern: ein Krisenkabinett, eine gemeinsame
Anstrengung des Präsidenten der Republik, der Gouverneure und der
Bürgermeister.»

Das 210-Millionen-Einwohner-Land gehört zu den Staaten, die von der
Pandemie besonders betroffen sind: Jede der Matten steht auch für 10
000 Tote. Als zweites Land der Welt hat Brasilien am Mittwoch die
Marke von 300 000 registrierten Corona-Todesopfern überschritten. Nur
in den Vereinigten Staaten mit 545 000 Todesfällen sind dem Virus
noch mehr Menschen zum Opfer gefallen.

Und noch eine traurige Zahl gab es diese Woche zu vermelden: Erstmals
starben mehr als 3000 Menschen innerhalb eines einzigen Tages.
Wissenschaftler rechnen damit, dass der Durchschnitt demnächst bei
bis zu 3500 Toten pro Tag liegen wird. Mehr als 12,2 Millionen
Menschen haben sich nachweislich infiziert.

Experten führen die Entwicklung unter anderem auf eine Variante des
Corona-Virus zurück, die bei Reisenden aus dem Amazonas-Gebiet im
Januar nachgewiesen wurde. «Diese neue Variante scheint eine größere

Geschwindigkeit der Ansteckung zu haben. Die Fälle scheinen sich
schneller zu entwickeln», sagt der Epidemiologe Diego Xavier, der bei
der Forschungseinrichtung «Fundação Oswaldo Cruz» (Fiocruz) arbeite
t.

Die Variante wurde inzwischen auch in vielen anderen Ländern
nachgewiesen, auch in Deutschland. Sie muss nicht tödlicher sein. Die
Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Astrazeneca wirken einer Studie
zufolge besser gegen sie als zunächst angenommen. Aber durch die
vielen Infizierten sind die Krankenhäuser voll. Mancherorts können
Patienten kaum noch versorgt werden. Brasiliens Gesundheitssystem ist
dabei, zu kollabieren - oder vielerorts bereits zusammengebrochen.

Betroffen ist nicht nur die abgelegene Amazonas-Metropole Manaus,
sondern insbesondere auch der Süden und Südosten: São Paulo,
Brasiliens reichste Stadt, und der Bundesstaat Rio Grande do Sul, der
von deutschen Einwanderern geprägt wurde. In 24 von 26 Bundesstaaten
sowie im Hauptstadtdistrikt Brasília ist die Lage auf den
Intensivstationen in «kritischem Zustand». Hunderte warten auf ein
Bett oder sterben in der Schlange. Medikamente und Sauerstoff fehlen.
So gehen etwa die Vorräte an Beruhigungsmitteln und Muskelblockern,
die zur Intubation benutzt werden, zur Neige, wie «BBC Brasil» unter
Berufung auf den Rat der Gesundheitssekretäre in allen Bundesstaaten
meldete.

Jüngere sind besonders betroffen. «Die Leute gehen raus, weil sie
denken, dass sie nur Geschmacks- und Geruchssinn verlieren», sagt der
Gesundheits-Sekretär des Bundesstaats São Paulo, Jean Gorinchteyn.
«Und am Ende verlieren sie ihr Leben.»

Die zunehmende Ausbreitung von Sars-CoV-2 hat nach Einschätzung von
Fiocruz «besorgniserregende Varianten» wie die neue P.1-Variante
begünstigt. «Das große Problem ist, dass diese Variante in Brasilien

aufgetreten ist, weil die Pandemie schon außer Kontrolle war», sagt
Xavier. «Das passiert - wie auch in Großbritannien oder Südafrika -
dort, wo es viele Fälle gibt und eine hohe Ansteckung.»

Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro hat das Coronavirus von Anfang an
verharmlost. Xavier sagt: «Wenn der Präsident so weitermacht und die
Ansteckung weitergeht, dann kann noch eine neue Variante kommen, die
nicht auf einen Impfstoff reagiert.» Nach der Rückkehr des beliebten
linken Ex-Staatschefs Luiz Inácio Lula da Silva auf die politische
Bühne hat der Rechtspopulist seinen Ton - auch mit Blick auf
Impfungen - allerdings etwas gemildert.

Inzwischen hat er die Gründung eines Krisenkomitees angekündigt.
Bolsonaro weist auch auf die Bemühungen zum Erwerb von Impfstoffen
hin. 500 Millionen Impfdosen bis zum Jahresende seien «garantiert».
«2021 wird das Jahr der Impfung der Brasilianer», verspricht der
Präsident. Viele glauben ihm nicht. Als Zeichen des Protests schlagen
sie nun auf Töpfe und Pfannen. Auch «Mörder»-Rufe wurden laut.

Immer wieder hatte Brasilien den Impfbeginn verschoben, die Menge der
Impfdosen korrigiert. Das ist umso tragischer, weil das Land
eigentlich über die Möglichkeiten für eine erfolgreiche Impfkampagne

verfügt - ein umfassendes und kostenloses öffentliches
Gesundheitssystem, in dessen Rahmen 2019 gegen das Influenzavirus in
drei Monaten 80 Millionen Menschen geimpft wurden.

Immerhin hat eine Fabrik im Norden Rios inzwischen mit der
großangelegten Herstellung des Astrazeneca-Impfstoffs auf Basis von
importiertem Arzneistoff begonnen. Bolsonaro lehnt einen Lockdown aus
wirtschaftlichen Gründen weiter ab. Aber Bürgermeister und
Gouverneure von wichtigen Städten und Bundesstaaten haben einen
Lockdown mit einem «Super-Feiertag» über zehn Tage von Freitag an
kombiniert. Bei Verstößen drohen Strafen bis hin zu Gefängnis.