Die Zukunftsaussichten der «Generation C» Von Jörg Ratzsch, dpa

Seit fast einem Jahr ist nun Corona-Ausnahmezustand. Jugendliche und
Kinder leiden besonders darunter, weil sie in allen Bereichen, von
der Bildung bis zur Freizeit, eingeschränkt und in ihrer Entwicklung
ausgebremst werden. Welche Folgen könnte das langfristig haben?

Berlin (dpa) - Vielleicht muss man mit einer Streichliste anfangen:
keine Tanzschule, kein Fußballtraining, keine Party zum 18., kein
Praktikum, keine Klassenfahrt, kein Auslandssemester, keine Konzerte,
keine Clubs, kein Fasching in der Kita, kein Laternenumzug, keine
Freunde treffen - alleine im Sandkasten und alleine zu Hause mit den
Schulaufgaben. Die Liste ließe sich fortschreiben. Wer sich erinnert,
wie prägend die Erfahrungen waren, die Kinder und Jugendliche jetzt
nicht machen können, weiß, wie es ihnen in der Corona-Pandemie geht.

Nun sind Grundschulen und Kitas wieder ein Stück offen, aber der
Betrieb steht auf wackeligen Füßen, die Älteren sind weiter zu Hause

und von Normalität ist das Land noch weit entfernt. Was macht das
langfristig mit den jungen Menschen - rund jeder Fünfte in
Deutschland ist unter 20 Jahre alt - und wie groß werden die Folgen
für diese Generation sein? Experten aus Wirtschaft, Wissenschaft und
Politik machen sich Sorgen, aber nicht nur.

BERUFSVORBEREITUNG LEIDET MASSIV

Mit Prognosen ist es wie immer schwierig: Bei der Bundesvereinigung
der Arbeitgeberverbände heißt es auf Nachfrage, es sei nur schwer
vorherzusagen, wie sich die Situation an den Schulen langfristig auf
die Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern auswirken würden.
«Richtig ist aber, dass aktuell besonders die berufliche Orientierung
leidet.» Der Vorstandschef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef
Scheele, bestätigt das: kaum Betriebspraktika, keine Berufsberatung
an Schulen, keine Ausbildungsmessen.

Bernd Fitzenberger, Direktor des Nürnberger Instituts für
Arbeitmarkt- und Berufsforschung befürchtet, viele Jugendliche
könnten auf der Strecke bleiben und ihre Karrierechancen nachhaltig
geschädigt werden - mit gesellschaftlichen Folgen wie häufiger
Arbeitslosigkeit als Langzeiteffekt. Ein verlorenes Schuljahr
bedeutet nach Rechnung des OECD-Bildungsdirektors und
Pisa-Verantwortlichen Andreas Schleicher ungefähr sieben bis zehn
Prozent verlorenes Lebenseinkommen.

Die Hochschulen sind ebenfalls vorsichtig mit Prognosen: Es gebe noch
keine Daten und Erkenntnisse dazu, «aber es ist zu vermuten, dass die
Lernergebnisse der angehenden Abiturientinnen und Abiturienten von
der Pandemie-Situation negativ beeinflusst werden», sagt Peter-André
Alt, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK). Das sei weder zu
verharmlosen noch zu dramatisieren. Die Hochschulen hätten aber
Erfahrung damit, durch Brückenkurse gewisse Defizite auszugleichen.

EIN JAHR CORONA EIN VIERTEL DES LEBENS

Und dann ist da noch die Psychologie und das Zeitempfinden von
Kindern und Jugendlichen. Wer sich erinnert, wie lange sich als Kind
ein paar Wochen Sommerferien anfühlten, kann sich vorstellen, was nun
ein Jahr Corona-Ausnahmezustand für junge Menschen bedeutet. «Das
spielt eine sehr große Rolle», sagt Alexandra Langmeyer,
Wissenschaftlerin am Deutschen Jugendinstitut in München. Für einen
Vierjährigen bedeute ein Jahr Corona ein Viertel seines Lebens.

Studien zufolge ist der seelische Druck bei jungen Menschen
gestiegen. Experten für Kinder- und Jugendpsychiatrie sehen eine
Zunahme bei Ängsten, Essstörungen oder auch Depressionen. Eine
Umfrage der Universitäten Hildesheim und Frankfurt zeigte zuletzt,
dass viele Jugendliche und junge Erwachsene Zukunftsängste haben.
«Sicherlich wird diese Zeit nicht für alle Kinder gleichermaßen
langfristig negative Auswirkungen haben», sagt Langmeyer. Es komme
sehr auf die Familie an, wie gut diese mit der Corona-Situation
zurechtkomme.

BENACHTEILIGTE KINDER FALLEN NOCH WEITER ZURÜCK

Wie andere Experten sieht die Kinder- und Jugendforscherin die Gefahr
negativer Langzeitfolgen verstärkt für Kinder aus ärmeren Familien.
Man beobachte mit Sorge, dass viele während der Schulschließungen
nicht «erreicht» werden konnten, heißt es bei den Arbeitgebern, die
sich für gezielte Förderangebote auch in den Ferien aussprechen.

Kai Maaz, Geschäftsführender Direktor des Leibniz-Instituts für
Bildungsforschung und Bildungsinformation, verweist auf
internationale Studien, die nach Schulschließungen besonders große
Lernrückstände bei ohnehin schon leistungsschwachen Schülern und bei

Kindern und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien gezeigt
hätten. Er vermutet, dass auf der anderen Seite manche Schüler sogar
von der Eins-zu-eins-Betreuung zu Hause profitieren und rechnet
damit, dass die Krise die Leistungsunterschiede in den Klassen
verstärkt.

Der Bildungsforscher schlägt Maßnahmen vor, um gegenzusteuern und
Rückstände aufzuholen, etwa die Einbeziehung außerschulischer
Bildungsträger oder «zeitlich überschaubare» Lern- und
Unterrichtsmöglichkeiten in den Ferien. «Wenn wir jetzt nicht
investieren und alles daransetzen, die entstanden Lernrückstände
wieder aufzufangen, werden die Folgekosten in der Zukunft erheblich
größer ausfallen.»

«GENERATION CORONA» ALS QUALITÄTSSIEGEL?

Doch wie bei den meisten Krisen gibt es vielleicht auch hier positive
Seiten: «Ich glaube, dass «Generation Corona» eher ein
Qualitätssiegel als ein negativer Stempel ist», sagt Dario Schramm,
Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz, der selbst kurz vor dem
Abi steht. Alle boxten sich seit nunmehr einem Jahr durch diese
herausfordernde Zeit. «Meine Mitschüler haben so viele Dinge in
Windeseile lernen müssen, für die andere normalerweise länger
brauchen. Sie haben einen Turbo-Reifeprozess durchlaufen.»

An den Hochschulen wird nicht ausgeschlossen, dass die jetzigen
Absolventen besondere Stärken mitbringen: Für die meisten
Abiturienten, werde die aktuelle Situation bei aller Belastung im
Rückblick auch eine wichtige Erfahrung sein, die bei der weiteren
Bewältigung gerade des Selbststudiums zweifellos helfen könne, sagt
HRK-Präsident Alt.

Bildungsforscher Kai Maaz zeigt sich grundsätzlich optimistisch: «Ich
glaube, dass die entstandenen Rückstände und Probleme wieder
aufgeholt werden können - auch wenn es eine große Herausforderung
ist. Alles andere wäre eine Kapitulation mit nicht tragbaren Folgen
für die einzelnen Menschen und für das System.» Familienministerin
Franziska Giffey (SPD) sieht ebenfalls keinen Grund für Pessimismus:
«Ich finde nicht, dass wir von einer «verlorenen Generation» sprechen

sollten.» Wer das tue, habe schon aufgegeben. «Aus schwierigen Zeiten
kann man auch gestärkt hervorgehen.»