Grundschulen und Kitas öffnen in mehr Ländern - Kritik an Richtwerten Von Jörg Ratzsch und Christian Andresen, dpa

Nach zwei langen Monaten kehren viele Kinder in mehreren
Bundesländern wieder in ihre Kitas und Grundschulen zurück. Die
Bundesbildungsministerin stellt sich hinter diesen Schritt. Auch über
weitere Maßnahmen wird an diesem Montag beraten.

Berlin (dpa) - Nach rund zweimonatiger Schließung und Notbetreuung
öffnen an diesem Montag in weiteren zehn Bundesländern wieder
Kindertagesstätten und Grundschulen. Bundesbildungsministerin Anja
Karliczek unterstützt das: «Es ist gut, dass viele Schulen in
Deutschland jetzt schrittweise wieder mit dem Präsenzunterricht
beginnen», sagte sie der Deutschen Presse-Agentur. Präsenzunterricht
sei durch nichts zu ersetzen. «Kinder, besonders jüngere, brauchen
einander.»

Angesichts der Infektionslage rief die CDU-Politikerin aber dazu auf,
«alle zur Verfügung stehenden Mittel zur Prävention einer
Virenübertragung zu ergreifen», um den Schulbetrieb auch in den
nächsten Wochen aufrecht erhalten zu können. Die jüngste Entwicklung

der Infektionszahlen verdiene höchste Aufmerksamkeit, sagte Karliczek
und verwies auch auf die Ausbreitung neuer Virusvarianten. «Das muss
auch beim Schulbetrieb bedacht werden. Ich bin mir aber sicher, dass
die Länder dies bei ihren Öffnungsentscheidungen berücksichtigen.»


Karliczek hat sich auch für eine höhere Priorisierung bei der Impfung
von Grundschullehrkräften und Kita-Erzieherinnen ausgesprochen.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will darüber am Nachmittag
mit seinen Länderkollegen beraten. Und noch etwas steht in Sachen
Corona-Bekämpfung auf der Agenda dieses Tages: Das sogenannte
Corona-Kabinett der Bundesregierung berät über Schnelltests durch
geschultes Personal für alle. Überlagert werden die anstehenden
Entscheidungen dabei vom Anstieg wichtiger Corona-Kennziffern - und
von wachsender Kritik am Neuinfektionswert als Richtschnur
politischen Handelns.

Worum also geht es an diesem Montag?

ÖFFNUNGEN VON SCHULEN UND KITAS: Nach Öffnungen in Niedersachsen und
Sachsen nehmen in weiteren zehn Bundesländern Kitas und Grundschulen
wieder ihren Betrieb auf oder weiten ihn aus. Unterricht soll
entweder im Wechselbetrieb stattfinden mit halben Klassen, die
abwechselnd zur Schule kommen, oder im Vollbetrieb mit festen
Gruppen, die sich möglichst nicht begegnen sollen. In den Kitas
werden wieder mehr oder alle Kinder betreut. Die Einzelheiten regelt
jedes Bundesland für sich.

SCHNELLERE IMPFUNGEN FÜR ERZIEHER UND LEHRER: Mit Blick auf die
Öffnungen von Grundschulen und Kitas hatten Kanzlerin Angela Merkel
(CDU) und Ministerpräsidenten Spahn beauftragt zu prüfen, ob
Grundschullehrer und Kitaerzieher bei den Impfungen höher priorisiert
werden können. Die Corona-Impfverordnung müsste geändert werden,
damit die laut Statistischem Bundesamt rund eine Million Betroffenen
aus der Gruppe drei (erhöhte Priorität) in die Gruppe zwei (hohe
Priorität) aufrücken. Mehrere Länder und Spahn sind dafür. Das daue
re
eine gute Woche, bis Anfang März, sagte der Minister in der ARD. Der
baden-württembergische Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) kündigte

dort für sein Land an, dass ab diesem Montag Erzieherinnen und
Erzieher, Lehrer und Lehrerinnen sowie Ärzte und Ärztinnen «und alle

aus dem medizinischen Bereich» geimpft werden sollten.

Die Deutsche Stiftung Patientenschutz befürchtet, dass Hochbetagte
und Schwerkranke bei der Impfung ins Hintertreffen geraten könnten,
wenn die Gruppe zwei um die genannten Berufsgruppen erweitert wird.
«Wenn jetzt Berufsgruppen noch weiter nach vorn gesetzt werden
sollen, wird das Leben kosten», sagte Stiftungsvorstand Eugen Brysch
der dpa. Auch die Gesundheitsexpertin der Unionsfraktion, Karin Maag,
warnte in der «Süddeutschen Zeitung» (Montag): «Wir haben gut daran

getan, dass wir die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission
weitgehend übernommen haben.» Sonst komme man «in ganz schwierige
Abwägungen».

SCHNELLTESTS FÜR ALLE: Unter anderem damit befasst sich in seiner
Montagsberatung das sogenannte Corona-Kabinett, ein Sondergremium von
Merkel und wenigen Ministern. Spahn hatte angekündigt, dass ab 1.
März alle Bürger kostenlos von geschultem Personal auf das
Coronavirus getestet werden können. Das soll in Testzentren, Praxen
oder Apotheken möglich sein. Details zur Umsetzung sind aber bisher
nicht bekannt. Eine entsprechende Anpassung der Corona-Testverordnung
muss noch beschlossen werden.

INFEKTIONSZAHLEN: Die Sorge vor einer dritten Corona-Welle wächst.
Die Kurve der Neuinfektionen zeigte am Sonntag den vierten Tag in
Folge nach oben - trotz des seit Mitte Dezember geltenden Lockdowns.
Am Montag meldete das Robert Koch-Institut (RKI) hier wiederum kaum
Veränderung: Binnen eines Tages meldeten die Gesundheitsämter 4369
Neuinfektionen, vor einer Woche waren es 4426 gewesen.

Zugleich stieg aber die Zahl der binnen sieben Tagen gemeldeten
Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner (Sieben-Tage-Inzidenz) weiter
an: und zwar auf bundesweit 61,0. Am Vortag hatte sie noch bei 60,2
gelegen. Der bundesweite Sieben-Tage-R-Wert lag nach dem
RKI-Lagebericht vom Sonntagnachmittag bei 1,10 (Vortag 1,07). Das
bedeutet, dass 100 Infizierte rechnerisch 110 weitere Menschen
anstecken. Das könnte darauf hindeuten, dass sich die ansteckenderen
Virusvarianten rascher ausbreiten.

ÖFFNUNGSSTRATEGIE: Die Länderchefs und Merkel hatten bei ihrer
letzten Beratung am 10. Februar vereinbart, dass eine Strategie für
weitere Lockerungen erarbeitet werden soll und dass sie am 3. März
weiter beraten. Der Stufenplan soll sich aber nicht nur an den
Neuinfektionen orientieren, wie der Vorsitzende der
Ministerpräsidentenkonferenz, Michael Müller (SPD), der «Stuttgarter

Zeitung» und den «Stuttgarter Nachrichten» (Montag) sagte. «Auch ei
n
R-Wert deutlich unter 1 und eine sinkende Auslastung der
Intensivmedizin werden wichtige Kriterien für nächste
Lockerungsschritte sein.»

Der Berliner Bürgermeister kündigte für die neue Woche einen
Vorschlag an: Wenn Bundesländer «stabil über mehrere Wochen» unter

den Inzidenzen 35 oder 50 blieben, «können weitere Schritte in der
Kultur und der Gastronomie folgen».

Spahn sagte in der ARD: «Es macht Sinn, (...) Stufen zu definieren,
ab wann der nächste Schritt gegangen werden kann. Aber die Wahrheit
ist: Eine Inzidenz von unter 10, die ist jedenfalls in den
allermeisten Regionen in Deutschland gerade ziemlich weit weg.» Er
erwähnte damit eine Ansteckungsrate, wie sie manche Virologen als
Zielwert fordern, die einige Ministerpräsidenten aber für zu
ambitioniert erachten.

Der Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, warnte
dringend vor weiteren Lockerungen. «Wer in Zeiten steigender R-Werte
über Lockerungen spricht, handelt absolut unverantwortlich», sagte
der Mediziner den Zeitungen der Funke Mediengruppe. «Der Inzidenzwert
zeigt, wo wir aktuell stehen. Der R-Wert zeigt, wohin wir gerade
gehen. Bei einem Wert klar über 1,0 droht wieder exponentielles
Wachstum - und genau das ist jetzt der Fall.»

Der Chef des Sachverständigenrats im Gesundheitswesen, Ferdinand
Gerlach, kritisierte die Orientierung an den Inzidenzen, weil sie
auch von der Testfrequenz abhingen. Es sei besser, «repräsentative
Kohorten» zu beobachten und zu testen, sagte er dem Nachrichtenportal
«ThePioneer» (Montag). «Wenn wir wissen, wie groß das
Infektionsrisiko am Arbeitsplatz, in der Schule, beim Einkaufen, im
Kino, im Museum oder im öffentlichen Verkehr ist, können wir
gezielter reagieren und müssen nicht eine ganze Volkswirtschaft
herunterfahren», erklärte der Spahn-Berater.