Kinder zurück in Kita und Schule - Wiedersehensfreude und Warnungen Von Jörg Ratzsch, dpa

Nach rund zwei Monaten sehen viele Kinder in Deutschland zum
Wochenstart erstmals ihre Kita oder Grundschule wieder von innen. Ein
Großteil der Bundesländer macht die Türen der Einrichtungen zumindest

ein Stück auf. Das finden die einen riskant, die anderen überfällig.


Berlin (dpa) - In weiteren zehn Bundesländern kehrt an diesem Montag
wieder ein bisschen Leben an die Grundschulen zurück. Vielerorts wird
außerdem der seit Dezember im Zuge der Corona-Maßnahmen stark
eingeschränkte Betrieb an Kitas wieder hochgefahren.
Familienministerin Franziska Giffey (SPD) begrüßt das mit Blick auf
die Auswirkungen für Familien und Kinder im Lockdown. Gleichzeitig
rufen Lehrervertreter zur Vorsicht auf.

«BELASTUNGSGRENZE ERREICHT»

«Man kann die Kinder nicht noch viel länger zuhause lassen, weil
sonst der Kinderschutz und das Kindeswohl in Gefahr sind», sagte
Giffey der Deutschen Presse-Agentur in Berlin und verwies auf
Probleme wie Vereinsamung, Bewegungsmangel und entstehende «Bildungs-
und Bindungslücken». Zudem seien viele Eltern am Ende. «Die
Belastungsgrenze ist erreicht.»

Giffey betonte, dass Öffnungen «verantwortungsvoll» erfolgen müsste
n,
mit Einhaltung von Hygieneregeln und Schutzmaßnahmen für das
Personal. «Dass wir dabei das Infektionsgeschehen weiter im Blick
haben müssen, ist selbstverständlich. Es geht jetzt um
Öffnungsschritte mit Sicherheit.»

Die Familienministerin sprach sich in dem Zusammenhang erneut für
zweimalige Corona-Schnelltests pro Woche bei Kita- und
Grundschulbeschäftigten aus, solange diese noch keine Impfung
erhalten können. «Wenn wir sagen, wir testen zweimal pro Woche,
erhöht das enorm die Sicherheit, verbessert die Prävention und hilft
bei der Unterbrechung von Infektionsketten», sagte Giffey. Je nach
Bundesland gibt es bereits entsprechende Angebote und Pläne.

ÖFFNUNGSSCHRITTE UNTERSCHEIDEN SICH

Am Montag öffnen in zehn Ländern wieder Grundschulen. Es findet
entweder sogenannter Wechselbetrieb mit halben Klassen statt, die
abwechselnd zur Schule kommen, oder auch Vollbetrieb mit festen
Gruppen, die sich möglichst nicht begegnen sollen. Teilweise gilt
Maskenpflicht auch im Unterricht. Je nach Bundesland ist es den
Eltern auch freigestellt, ob sie ihre Kinder schicken. Und es gibt
Länder, die zwar öffnen, aber nicht überall, je nach örtlicher
Corona-Lage.

Bei den Kitas dürfen mehr Kinder oder auch alle wieder in die
Betreuung zurück. Auch das unterscheidet sich in den Ländern.

Für ältere Schüler und Jugendliche geht es erst einmal mit
sogenanntem Fernunterricht weiter. Ausgenommen davon bleiben
Abschlussklassen.

In Niedersachsen sind Grundschüler bereits seit Januar wieder in den
Schulen, in Sachsen seit Beginn dieser Woche. Auch die Kitas sind im
Freistaat seit Montag wieder auf.

BEVÖLKERUNG FÜR SCHULÖFFNUNGEN

Über die nun anstehenden weiteren Öffnungen wird viel diskutiert.
Kritiker machen sich vor allem im Netz Luft und warnen vor
Experimenten an Schulen und Kitas. Einer Umfrage zufolge ist eine
Mehrheit der Bevölkerung aber für schrittweise Öffnungen der Schulen.

Im Deutschlandtrend des ARD-«Morgenmagazins» sprachen sich 58 Prozent
der Befragten dafür aus. 22 Prozent unterstützen eine vollständige
Wiederaufnahme des regulären Schulbetriebs. 16 Prozent sähen es
lieber, wenn die Schulen weiterhin ganz geschlossen blieben.

Die Infektionslage macht es schwierig: Die Zahl der Neuinfektionen
ist zwar zuletzt gesunken, aber inzwischen bewegt sie sich eher
seitwärts. Der Wert der binnen sieben Tagen gemeldeten Neuinfektionen
pro 100 000 Einwohner lag laut RKI am Samstagmorgen bundesweit bei
57,8 - und damit sogar etwas höher als am Vortag (56,8).

Die neuen Virusvarianten könnten zu einem schnellen Wiederanstieg bei
den Ansteckungszahlen führen, wird befürchtet. Der Präsident des
Robert Koch-Instituts, Lothar Wieler, sagte am Freitag: «Wir stehen
möglicherweise erneut an einem Wendepunkt.» Gesundheitsminister Jens
Spahn (CDU) verwies darauf, dass der Beginn von Schulen und Kitas
«Mobilität in sehr großem Umfang» auslöse.

LEHRERVERTRETER FORDERN GESUNDHEITSSCHUTZ

Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger,
findet es zwar richtig, schrittweise wieder mit dem Unterricht in den
Schulen zu beginnen, aber nur in Regionen mit niedrigem
Infektionsgeschehen. Wenn Bundesländer flächendeckend öffneten, auch

in Landkreisen mit hohen Ansteckungszahlen, sei das mit Blick auf den
Gesundheitsschutz nicht verantwortbar, sagte er der dpa. In einem
solchen Fall werde die Balance zwischen Gesundheitsschutz und
Bildungsauftrag nicht gehalten.

Der Grundschulverband, in dem sich Grundschulen, Lehrkräfte und
Wissenschaftler zusammengeschlossen haben, bewertet die Öffnungen
grundsätzlich positiv. Kinder im Grundschulalter bräuchten andere
Kinder und eine wertschätzende pädagogische Begleitung ihrer
schulischen Lernprozesse. Der Vorsitzende, Edgar Bohn, selbst
ehemaliger Grundschulleiter, forderte aber «dringend, schnell und
effektiv» beim Gesundheitsschutz nachzusteuern. «Lüften alleine
genügt nicht.» Schulen müssten in ausreichender Zahl mit
CO2-Messgeräten und wo nötig mit Raumlüftungsanlagen ausgestattet
werden.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) zeigte sich dagegen
skeptisch: «Die Länder, die jetzt ihre Schulen öffnen, gehen ein
hohes Risiko - für die Gesundheit der Lehrkräfte, der Schülerinnen
und Schüler sowie deren Eltern», sagte die Vorsitzende Marlis Tepe
den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Samstag). Die stagnierenden
Inzidenzzahlen deuteten auf eine dritte Corona-Welle hin, verursacht
durch die Corona-Mutationen. «Vor diesem Hintergrund hätten wir uns
von den Ländern mehr Verantwortungsbewusstsein gewünscht.»

Beim Lehrerverband VBE im bevölkerungsreichsten Bundesland
Nordrhein-Westfalen hieß es zuletzt: «Auch wenn es Freude über ein
gemeinsames Wiedersehen geben wird, wird es kein unbeschwerter
Wiedereinstieg in den Präsenzunterricht sein.»