Merkel spricht mit Kommunalpolitikern über Corona-Pandemie

Das Frühjahr naht, die Rufe nach einem Ende der Lockdown-Starre
werden immer lauter. Die Fixierung auf Inzidenzwerte gerät zunehmend
in die Kritik. Kanzlerin Merkel sucht den Kontakt zu
Kommunalpolitikern.

München (dpa) - In der Debatte um Lockerungen von
Corona-Beschränkungen sucht Bundeskanzlerin Angela Merkel den Kontakt
zu Kommunalpolitikern. Merkel will am Freitag (11.00 Uhr) an einer
Videokonferenz mit Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und
bayerischen Landräten und Oberbürgermeistern teilnehmen. Aus der
Wirtschaft wächst der Druck, das öffentliche Leben wieder
hochzufahren. In Berlin (9.30 Uhr) wollen sich
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), der Präsident des Robert
Koch-Instituts, Lothar Wieler, und Bayerns Gesundheitsminister Klaus
Holetschek (CSU) zur Pandemie-Lage äußern. Holetschek ist auch
Vorsitzender der Gesundheitsministerkonferenz.

Bei dem Treffen mit Merkel wollen die bayerischen Kommunalpolitiker
nach Worten Söders aus erster Hand erfahren, wie die Kanzlerin die
aktuelle Lage einschätzt, wie sie die Gefahr durch die
Virusmutationen sieht und wie die weitere Entwicklung im Kampf gegen
Corona aussehen könnte. Zum anderen soll es aber auch um ganz
konkrete Bedürfnisse der Kommunen gehen. Vor der Videoschalte hatten
mehrere Landräte und Oberbürgermeister Kurskorrekturen in der
Anti-Corona-Politik gefordert - unter anderem klarere
Öffnungsperspektiven und eine Orientierung nicht mehr nur an
Sieben-Tage-Inzidenzwerten. Vor allem Kommunen mit konstant niedrigen
Corona-Infektionszahlen wollen raschere Lockdown-Lockerungen
insbesondere für den Einzelhandel.

Der Handelsverband Deutschland (HDE) forderte erste Öffnungsschritte
für den Einzelhandel auch bei Inzidenzwerten über 35 und 50. Die
Branche habe gezeigt, dass sie kein Treiber der Pandemie sei. Deshalb
gebe es «keinen sachlichen Grund, die Geschäfte weiterhin ohne
verlässliche Öffnungsperspektive geschlossen zu halten», sagte
HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth dem Redaktionsnetzwerk
Deutschland (RND/Freitag). Auch der Geschäftsführer des
Bundesverbands der Konzert- und Veranstaltungswirtschaft (BDKV), Jens
Michow, sagte dem RND: «Es reicht nicht aus, nur auf die
Inzidenzwerte zu schauen.» Es müssten weitere Kriterien wie die Art
der Veranstaltung und Gegebenheiten der jeweiligen Spielstätte
berücksichtigt werden.

Industriepräsident Siegfried Russwurm forderte die Politik ebenfalls
auf, Maßnahmen nicht nur am Inzidenzwert festzumachen. «Ich glaube
nicht, dass diese Pandemie so eine einfache Regel - auf eine Zahl
projiziert - zulässt», sagte Russwurm in der ZDF-Sendung «Maybrit
Illner». «Wir müssen besser verstehen, wie dieses Virus funktioniert,

wie sich Menschen anstecken, wo das passiert und dann sehr
zielgerichtet Maßnahmen entscheiden - nach Regionen, aber
wahrscheinlich nicht nur nach einer Zahl.» Eine Zahl dürfe nicht über

Wohl und Wehe ganzer Regionen entscheiden, betonte der Präsident des
Bundesverbandes der Deutschen Industrie.

Der Virologe Hendrik Streeck schlug im «Focus» vor, Restaurants
testweise zu öffnen und «diverse Hygienemaßnahmen, von der Distanz
zwischen den Tischen über die Lüftung bis hin zur
Kontaktnachverfolgung», auf den Prüfstand zu stellen. Anstelle der
Fixierung auf die Infektionsinzidenz regte Streeck ein Ampelkonzept
an. Abhängig von der Belegung der Kliniken mit Covid-19-Patienten,
der nach Altersklassen unterteilten Zahl von Neuansteckungen und dem
Reproduktionsfaktor sollte sie jeweils auf Rot, Gelb oder Grün
gestellt werden.

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht rief die Bundesländer auf
zu prüfen, «ob die jetzt geltenden Maßnahmen bei ihnen noch
erforderlich sind oder nicht mildere Maßnahmen wie die Durchführung
von Tests oder die Anwendung von Hygienekonzepten ausreichen».
«Begründungspflichtig ist die Anordnung von Einschränkungen und nicht

deren Lockerung», sagte die SPD-Politikerin der «Augsburger
Allgemeinen» (Freitag). Die Gerichte würden das sehr genau
beobachten.

Vom Ziel eines Inzidenzwertes von 35 ist Deutschland noch ein gutes
Stück entfernt. In den vergangenen Tagen stagnierte der Wert bei 57.
In einigen Bundesländern war er zuletzt sogar wieder gestiegen, vor
allem im derzeit am stärksten betroffenen Bundesland Thüringen. Hier
tritt am Freitag eine neue Verordnung in Kraft, die eine Verlängerung
des Lockdowns mit Kontaktbeschränkungen und Ladenschließungen bis 15.
März vorsieht. Bund und Länder hatten eine Verlängerung bis zum 7.
März beschlossen mit Ausnahme von Friseuren, die zum 1. März wieder
öffnen dürfen.

Hoffnungen richten sich neben dem Fortschritt bei den Impfungen auf
Schnelltests. Gesundheitsminister Spahn hatte angekündigt, ab dem 1.
März sollten alle Bürger kostenlos von geschultem Personal mit
Antigen-Schnelltests getestet werden können. Näher rücken zudem
Selbsttests für Laien.

Diese sieht der Vize-Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung
(KBV), Stephan Hofmeister, aber skeptisch. Es sei zu befürchten, dass
jemand einen positiven Test für sich behalte, weil er sonst Nachteile
wie eine Quarantäne in Kauf nehmen müssten, sagte Hofmeister dem RND.
Hofmeister zufolge stellen sich die Arztpraxen zugleich
flächendeckend darauf ein, spätestens Anfang April mit Impfungen zu
beginnen, weil dann die Impfzentren an ihre Kapazitätsgrenzen
stießen. Der genaue Termin werde zusammen mit dem
Gesundheitsministerium geklärt.

Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) hofft
unterdessen darauf, dass schneller als bisher geplant ein Impfstoff
für Kinder bereitsteht. «Wir hoffen, dass so schnell wie möglich ein

Impfangebot für Kinder kommt», sagte Verbandspräsident Jörg Dötsc
h
der «Rheinischen Post» (Freitag). «In den Zulassungsbescheinigungen
der Europäische Zulassungsbehörde EMA ist jedoch festgeschrieben,
dass erst bis 2024 entsprechende Studien bei Kinder vorliegen müssen
- das hat uns sehr enttäuscht und besorgt gemacht», klagte Dötsch.