Sorge vor dritter Welle wächst - Steinmeier beklagt Ungeduld

Die Corona-Zahlen entwickeln sich anders als erhofft: Trotz Lockdown
gehen sie nicht weiter zurück. Dennoch gibt es immer neue Forderungen
nach Öffnungen. Gleichzeitig werden aber auch Rufe nach schärferen
Restriktionen lauter.

Berlin (dpa) - Seit Tagen stagnierende Corona-Zahlen in Deutschland
und immer mehr Infizierte in einzelnen Regionen lassen die Furcht vor
einer dritten Welle wachsen. Forderungen nach Lockdown-Lockerungen
stehen Spekulationen über schärfere Maßnahmen gegenüber. Der
Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, sprach im
Sender WDR5 von einem Wettrennen zwischen Impfungen und
Virusvarianten.

Im besonders stark betroffenen Thüringen stieg der Wert der
Neuinfektionen pro 100 000 Einwohnern und sieben Tagen binnen 24
Stunden von 111,6 auf 119,5. In Baden-Württemberg warnte
Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) vor
Wirtschaftsvertretern, ein weit härterer Lockdown als derzeit könnte
nötig werden. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sprach in
mahnenden Worten von wachsender Ungeduld.

In den meisten Bundesländern kehren Grundschüler und Kita-Kinder in
der kommenden Woche nach rund zweimonatiger Pause in die
Einrichtungen zurück. Am 3. März wollen Bund und Länder über die La
ge
beraten. Ab dem 7. März sollen Geschäfte dort wieder öffnen können,

wo es regional drei Tage lang nicht über 35 Neuinfektionen pro 100
000 Einwohnern und sieben Tagen gibt. Seit vergangenen Sonntag
schwankte diese 7-Tage-Inzidenz bundesweit aber leicht über 57. Davor
war sie über Tage hinweg kontinuierlich gesunken.

Die Stagnation ist aus Expertensicht auf neue Virusvarianten wie der
aus Großbritannien zurückzuführen. RKI-Chef Wieler sagte, die
Sieben-Tage-Inzidenz stagniere derzeit leicht. «Ich glaube, wir
können innerhalb der nächsten Woche sagen, ob es weiter nach unten
geht, oder ob wir durch die Varianten wieder einen leichten Anstieg
haben werden.» «Wenn sich der Trend bestätigt, dann brauchen wir
stärkere Restriktionen», sagte der Molekularbiologe und
Regierungsberater Rolf Apweiler der Deutschen Presse-Agentur. Nach
RKI-Angaben ist der Anteil der ansteckenderen britischen Variante
binnen zwei Wochen von knapp 6 auf mehr als 22 Prozent gestiegen.
Wissenschaftler bezweifelten bereits, dass die Inzidenz absehbar
unter 35 sinkt.

Wieder steigende Sieben-Tage-Inzidenzen gibt es etwa in Bremen
(65,8), Nordrhein-Westfalen (57,1) und Sachsen-Anhalt (83,8) - aber
nirgends so stark wie im ländlich geprägten Thüringen. In Flensburg,

wo wohl die britische Variante grassiert, werden Kontakte außerhalb
des eigenen Haushalts und nächtliche Ausgänge von Samstag an
verboten. Gesundheitsminister Heiner Garg sagte, man wolle der Gefahr
einer dritten Welle «entschieden entgegentreten».

SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach nannte Flensburg als Beispiel,
was ganz Deutschland bei weiterer Verbreitung der britischen Mutation
passieren könnte. «Verhindern kann das nur strikter Lockdown, bis wir
klar unter Zielinzidenz von 35 liegen», forderte er auf Twitter.

Dem stehen lauter werdende Öffnungsrufe entgegen. Bundespräsident
Steinmeier sagte vor Vertretern des Gesundheitswesens in Sachsen:
«Die Ungeduld wächst im Lande, das ist spürbar.»

Baden-Württembergs Ministerpräsident Kretschmann sagte: «Ich hör
immer nur öffnen. Ich möchte mal einen erleben, der mal sagt, jetzt
machen Sie mal ein bisschen was schärfer. Das hör ich nie!» Eine
dritte Welle, die noch schlimmer wäre als die zweite, könne nicht im
Interesse der Wirtschaft sein. «Dann machen wir einen richtigen
Lockdown - den gab es bisher ja gar nicht.»

Der Mittelstand dringt auf einen verbindlichen «Exit-Fahrplan». In
einem Schreiben des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft (BVMW)
an Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) heißt es: «Deutschland
muss raus aus dem Lockdown.» Auch in Kommunen mit geringeren
Fallzahlen regt sich Widerstand. Etwa der Kemptener Oberbürgermeister
Thomas Kiechle (CSU) sagte der dpa, Kempten habe seit Tagen eine
Inzidenz von etwa 20. Bereits CDU-Chef Armin Laschet hatte sich
gegen einen strickt an Inzidenzwerten orientierten Lockdown-Kurs
gewandt.

Steinmeier verwies auf Fortschritte beim Impfen: «Wir können froh
darüber sein, dass die Impfungen - aus Sicht vieler viel zu langsam -
aber jetzt doch vorankommen.» Der Berliner Virologe Christian Drosten
hatte allerdings zu bedenken gegeben, dass die ersten Erfolge der
Impfkampagne wohl wenig Wirkung auf die Virusverbreitung habe. Grund:
Vorrangig geimpft werden die Hochbetagten - doch die Jüngeren
verbreiteten das Virus am Stärksten.

Nach Zweifeln am Impfstoff des Herstellers Astrazeneca riefen
Bundesärztekammer, Kassenärztliche Bundesvereinigung und andere
Ärzteverbände die Pflegekräfte eindringlich zur Impfung auf - auch
mit diesem Präparat. Inzwischen wurden laut RKI knapp 107 000
Astrazeneca-Dosen in Deutschland verimpft. Am Vortag waren es knapp
90 000, geliefert sind rund 740 000. Mit wachsenden
Impfstoff-Lieferungen insgesamt sollen nach Angaben von Spahn im
zweiten Quartal auch die normalen Arztpraxen Corona-Impfungen
vornehmen. Genaue Planungen dazu laufen. Nach Informationen des
«Business Insider» könnten Praxen laut ersten Eckpunkten bis zu vier

Wochen im Voraus bestellen - im Schnitt wöchentlich 100 Dosen.
Bekannt ist, dass etwa 50 000 in Frage kommende Praxen mehr als fünf
Millionen Impfungen pro Woche vornehmen können sollen.