Wie hoch ist das Infektionsrisiko in verschiedenen Innenräumen? Von Walter Willems, dpa

Beim Friseur, beim Einkaufen, im Kino: Eine Studie vergleicht das
Infektionsrisiko für verschiedene Innenräume, mit klaren Aussagen.
Andere Experten teilen nicht alle von ihnen. Wie schwer es ist, die
echte Welt in Modelle zu pressen.

Berlin/Mainz/Göttingen (dpa) - Das Paper ist sehr kurz - und überaus
aktuell: Während Deutschland ein Ende des allgemeinen
Corona-Lockdowns herbeisehnt, haben Forscher der Technischen
Universität Berlin Berechnungen zum Ansteckungsrisiko für
verschiedene Innenraum-Szenarien veröffentlicht: vom Friseur über den
Supermarkt bis hin zu Kino und Fitnessstudio. «Es geht darum, dass
wir jetzt in die Lockerungsphasen kommen», sagt Studienleiter Martin
Kriegel.

In den Kalkulationen, die nicht von unabhängigen Experten begutachtet
wurden und nicht in einer Fachzeitschrift veröffentlicht sind,
fokussieren sich Kriegel und seine TU-Kollegin Anne Hartmann auf
gängige Orte wie etwa Theater, Restaurants und Schulen.
Berücksichtigte Einflussfaktoren sind vor allem die Dauer des
jeweiligen Aufenthalts (im Supermarkt mit einer Stunde veranschlagt),
der Aktivitätsgrad (im Fitnessstudio hoch) und die Luftzufuhr im
Raum. Die Einhaltung der Hygiene- und Lüftungsregeln wird
vorausgesetzt, die Schutzwirkung einer Maske mit 50 Prozent
einbezogen. Weitere Bedingung: Eine infizierte Person ist zusammen
mit anderen im Raum.

Unter den gesetzten Voraussetzungen ist das Risiko beim Friseur, in
wenig ausgelasteten Museen, Theatern und Kinos, aber auch in
Supermärkten demnach vergleichsweise gering. Deutlich höher sei es in
Fitnessstudios und vor allem in Oberschulen und Mehrpersonenbüros.
Beispiele: Beim Einkaufen im Supermarkt würde sich demnach - unter
den festgelegten speziellen Voraussetzungen - maximal eine weitere
Person anstecken. In einem zur Hälfte besetzten Mehrpersonenbüro, in
dem sich Menschen acht Stunden ohne Maske aufhalten, läge der Wert
unter den für die Studie angenommenen Bedingungen acht Mal höher. In
einem Theater mit 30 Prozent Auslastung und Maskenpflicht wäre das
Risiko nur halb so hoch wie im Supermarkt - trotz doppelter
angenommener Aufenthaltsdauer von zwei Stunden.

«Es ist von großem Interesse, typische Situationen miteinander zu
vergleichen, um einen generellen Eindruck zu bekommen», sagt Kriegel.
Er räumt gleichzeitig ein: «Es ist ein einfaches Abschätzungsmodell,

das allerdings auf einem detaillierten Infektionsrisikomodell
basiert, das an realen Ausbrüchen validiert wurde.» Grundlegende
medizinische Fragen seien dennoch unklar, etwa wie viele Viren in
Aerosolpartikeln und welche Viruskonzentration für eine Infektion
notwendig seien. «Man bräuchte eine stärkere interdisziplinäre
Zusammenarbeit, um ein umfassendes, ganzheitliches Modell zu
erhalten.»

Die echte Welt ist eben komplexer. Der frühere Präsident der
Internationalen Gesellschaft für Aerosole in der Medizin, Gerhard
Scheuch, mahnt zu Vorsicht bei der Interpretation der Resultate: Von
der Vielzahl der Einflussfaktoren sei bisher nur ein Teil bekannt,
die Studie setze viele Annahmen voraus. «Solche Berechnungen sind
unheimlich komplex.» Die Resultate, die das Risiko sehr exakt
angeben, erweckten den Eindruck einer Präzision, die es so nicht
gebe.

Der Chemiker Jos Lelieveld hebt die vergleichende Gegenüberstellung
der Szenarien hervor. «Die Botschaft ist eigentlich simpel»,
erläutert der Direktor am Mainzer Max-Planck-Institut für Chemie.
«Wenn eine Gruppe von Personen sich mit einem infizierten Menschen
längere Zeit in einem geschlossenen Raum aufhält, ist das
Ansteckungsrisiko sehr hoch. Über mehrere Stunden reichern sich die
virenbeladenen Aerosole an, wobei die infektiöse Dosis erreicht
werden kann.»

Dies gelte etwa für Oberschulen, für die sich das Risiko angesichts
vergleichbarer Klassen- und Raumgrößen gut abbilden lasse. Auch das
Risiko in Büroräumen sei eindeutig. «Diese Aussagen sind richtig und

wichtig», betont Lelieveld. «Die Öffentlichkeit sollte verstehen,
dass sie mit dem Öffnen der Schulen ein hohes Risiko eingeht.» Auch
der Homeoffice-Anteil im Beruf sei noch sehr ausbaufähig.

Andere Aussagen der Studie sieht Lelieveld kritisch - etwa zum Risiko
in Schwimmhallen, das nach Kriegels Studie beträchtlich ist. Eine
Anfrage von einem Schwimmbadverband, das Infektionsrisiko zu
berechnen, lehnte Lelieveld ab. «Dafür müsste man für die großen

Hallen die Aerosolströmungen gut simulieren», sagt er. «Das können

wir nicht.» Auch für Restaurants und Fitnessstudios seien genaue
Angaben schwierig: «Diese Aussagen würde ich so nicht unterstützen.
»

Der Physiker Eberhard Bodenschatz vom Max-Planck-Institut für Dynamik
und Selbstorganisation in Göttingen betont, dass man relativ gut die
Wahrscheinlichkeiten für Infektionen unter gegebenen Bedingungen
abschätzen könne. Wichtig sei jedoch, alle Eventualitäten zu
betrachten.

Ein Beispiel: Falls sich in einem Restaurant Menschen verabreden, die
ohnehin Kontakt zueinander hätten, könnte es sein, dass die ganze
Gruppe ansteckend sei, ohne es zu wissen. Dann sei die
Wahrscheinlichkeit viel höher, dass sich andere Personen über
infektiöse Aerosole anstecken als etwa beim Friseur, den Kunden meist
unabhängig voneinander besuchten.

Unabhängig vom jeweiligen Ort hänge das Risiko enorm von einem Faktor
ab: der Verbreitung des Virus in der Bevölkerung. «Wenn die Prävalenz

sinkt, sinkt auch die Wahrscheinlichkeit, dass überhaupt eine
infizierte Person in einem Raum ist.» Deshalb begrüßt Bodenschatz den

jüngsten Beschluss der Bund-Länder-Konferenz, Lockerungen der
Corona-Maßnahmen erst ab der Zahl von 35 Neuinfektionen pro 100 000
Einwohnern binnen sieben Tagen zu erwägen. «Eigentlich sollte man die
Inzidenz so weit runter drücken, wie es irgendwie geht.»

Die Experten betonen, dass politische Entscheidungen auch von vielen
anderen Faktoren abhängig seien. Studienautor Kriegel möchte seine
Kalkulationen nicht als Vorgabe an die Politik bezüglich möglicher
Lockerungen verstanden wissen. «Ich möchte keine Empfehlungen
abgeben», betont er. «Wir liefern Informationen. In die
Entscheidungsprozesse werden wir nicht eingebunden.»