Angst, Auflagen und Verzicht - Kinder wegen Corona seltener in Klinik

Der Lockdown hat Spuren auch in den Statistiken der Kinderkliniken
hinterlassen. Operationen wurden verschoben, es wuchs die Angst vor
Infektionen. Und natürlich knickt auch seltener um, wer stets daheim
hockt. Doch vor allem in einem Bereich gibt es Grund zur Sorge.

Stuttgart (dpa/lsw) - Wegen der Corona-Auflagen, der Angst vor
Ansteckungen und durch die eingeschränkte medizinische Versorgung
sind laut einer Studie im Lockdown im Frühjahr etliche Operationen
und Behandlungen bei Kindern und Jugendlichen verschoben worden.
Besonders starke Rückgänge gab es im vergangenen März und April bei
den Behandlungen von Infektionen, Augen- und Ohrenerkrankungen sowie
Atemwegserkrankungen, wie aus dem Kinder- und Jugendreport der
DAK-Gesundheit hervorgeht, der der dpa vorliegt. Stationäre
Einweisungen wegen Depressionen hingegen nahmen deutlich zu.

In einigen Bereichen wie bei den Infektionskrankheiten und Stürzen
dürfte die Entwicklung auch die logische Konsequenz der
Kontaktbeschränkungen sein. Denn wer den ganzen Tag zu Hause
verbringt und Abstand hält, der steckt sich weniger an und knickt
auch seltener um. Mediziner erwarteten dennoch einen Anstieg von
schweren Verläufen bei chronischen Erkrankungen von Kindern.
Siegfried Euerle, Landeschef der DAK-Gesundheit in Baden-Württemberg,
spricht von einer «Gefahr von Folgeschäden».

Laut DAK-Report fiel im Vergleich zum Vorjahreszeitraum fast jede
zweite Operation von Kindern und Jugendlichen aus (minus rund 46
Prozent). Insgesamt seien die Krankenhausfälle im Südwesten um rund
38 Prozent zurückgegangen, drei Prozentpunkte weniger als im
Bundesdurchschnitt. Gründe seien verschobene Behandlungen durch die
Krankenhäuser und weniger Klinikbesuche aus Angst der Eltern vor
Infektionen gewesen, heißt es in der Studie, die die Universität
Bielefeld erstellt hat.

Aus dem täglichen Klinikalltag kann der Stuttgarter Mediziner Jan
Steffen Jürgensen diese Entwicklung bestätigen. «Im Frühjahr 2020
wurden in den Krankenhäusern viele nicht dringende stationäre und
ambulante Behandlungen deutlich reduziert», sagte der
Vorstandsvorsitzende des Klinikums Stuttgart, zu dem auch
Deutschlands größte Kinderklinik, das Olgahospital, gehört. «Aber
auch aus Angst vor Ansteckung oder wegen der eingeschränkten
Besuchsregelungen haben Eltern Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte
gemieden oder aufgeschoben.» Viele Krankheiten seien so erst
verzögert diagnostiziert und in komplizierten Stadien behandelt
worden.

Nach Angaben Jürgensens wurden unter anderem in der Kindernotaufnahme
des Klinikums deutlich mehr Blinddarmentzündungen vorgestellt, die
bereits zum Blinddarmdurchbruch geführt hatten. Auch die Zahl der neu
diagnostizierten Leukämien bei Kindern ging zunächst zurück, weil
Praxen seltener aufgesucht wurden. «Sie konnten erst später als
Häufung fortgeschrittener Verläufe erkannt und therapiert werden»,
sagte der Mediziner. Bei chronischen Erkrankungen wie Diabetes
mellitus sei die Versorgung ebenfalls zeitweise schwerer geworden.

Am deutlichsten sei die Fallzahl im ersten Halbjahr 2020 bei den
stationären Aufenthalten wegen akuter Mandelentzündungen (minus 75
Prozent) und den Darminfektionen (minus 72 Prozent) gesunken, heißt
es in der Studie weiter. Auch bei den akuten Bronchitisfällen sanken
die Zahlen im Vergleich zu den ersten sechs Monaten des Jahres 2019
(minus 56 Prozent), ebenso bei Bauch- und Beckenschmerzen.

Dagegen nahmen stationäre Behandlungen wegen Depressionen nach
Angaben der Bielefelder Wissenschaftler um 20 Prozent zu. Streit in
den Familien bis hin zur häuslichen Gewalt schienen zuzunehmen, sagte
Ralf van Heek vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte. «All
dies lässt befürchten, dass die Pandemiefolgen für unsere Kinder
insbesondere im psycho-sozio-emotionalen Bereich noch wesentlich
gravierender sein werden als im ersten Lockdown 2020», sagte er.

«Die Corona-Delle bei den Kinder-Operationen und Behandlungszahlen
birgt die Gefahr von Folgeschäden», warnte zudem Siegfried Euerle,
der Landeschef der DAK-Gesundheit in Baden-Württemberg. Das
Gesundheitssystem müsse für Eltern und Kinder aber so sicher sein,
dass sie sich vertrauensvoll versorgen lassen könnten. «In der
aktuellen Corona-Diskussion spielt die Kinder- und Jugendgesundheit
in Baden-Württemberg eine zu geringe Rolle und das müssen wir
ändern», sagte Euerle.

Laut DAK-Report erreichte die Versorgungssituation der Kinder und
Jugendlichen in den Krankenhäusern des Landes rund zwei Monate nach
dem Lockdown wieder Werte, die denen des Vorjahres entsprachen.
Womöglich wegen der Kontaktbeschränkungen seien Atemwegs- und
Infektionserkrankungen aber auch Ende Juni noch deutlich seltener als
im Vorjahr im Krankenhaus behandelt worden.

Nach Angaben der DAK wurden anonymisierte Krankenhausdaten von mehr
als 85 000 DAK-versicherten Kindern und Jugendlichen aus
Baden-Württemberg unter 17 Jahren untersucht. Analysiert worden seien
deren Krankenhausaufenthalte aus dem ersten Halbjahr 2019 und
demselben Zeitraum 2020. Der repräsentative Report basiere auf Daten
von 4,7 Prozent aller Kinder und Jugendlichen im Bundesland. Die
DAK-Gesundheit ist nach eigenen Angaben die drittgrößte Krankenkasse
Deutschlands.