Generation Corona: Wie belastet sind Jugendliche in der Pandemie? Von Christina Sticht, dpa

Geschlossene Schulen, keine Treffen mit zwei oder mehr Freunden, kaum
Vereinssport: Das Coronavirus fordert Jugendlichen viel ab. Von der
Politik wünschen sie sich mehr Beteiligung und weniger Diffamierung.

Hildesheim/München (dpa) - Am Anfang der Pandemie wurden sie oft als
verantwortungslose Partymacher beschrieben, inzwischen mehren sich
Berichte über eine psychisch stark belastete Generation Corona. Wie
kommen Jugendliche durch die Corona-Krise? Wie geht es ihnen, je
länger der Winter-Lockdown mit seinen Schulschließungen dauert?

Mehreren Studien zufolge ist der seelische Druck bei jungen Menschen
im Vergleich zum Frühjahr gestiegen. Fast jedes dritte Kind im Alter
zwischen 7 und 17 Jahren zeige inzwischen psychische Auffälligkeiten,
berichten etwa die Autoren der Hamburger Copsy-Studie. Risikofaktoren
seien ein geringes Bildungsniveau und begrenzter Wohnraum. Vorher
waren es laut Untersuchung zwei von zehn Kindern.

In Berlin kommen seit Beginn der Corona-Pandemie mehr Kinder und
Jugendliche etwa mit Ängsten, Essstörungen oder Depressionen zur
Behandlung in psychiatrische Kliniken, wie aus einer Sonderauswertung
der Krankenkasse DAK hervorgeht. Die Zahl solcher Einweisungen hat
sich demnach in der Hauptstadt im ersten Halbjahr 2020 fast
verdoppelt. «Es ist insgesamt ein Riesenthema unter Kollegen», sagt
Jugendpsychiater Martin Holtmann, Beirat der Stiftung Deutsche
Depressionshilfe. Viele Stationen bundesweit seien in diesem Winter
voll, Sprechstunden überlaufen.

Christoph Correll, Direktor der Klinik für Kinder-und
Jugendpsychiatrie auf dem Charité-Campus Virchow, sagt, was in seiner
Klinik häufiger vorkommt als vor der Pandemie: «sehr magere
essgestörte Mädchen, noch dünner als früher» zum Beispiel.
«Wahrscheinlich, weil Lehrer, Freundinnen oder Kinderärzte als
Korrektiv fehlen.» Auch Hautritzen als zerstörerische
Bewältigungsstrategie komme häufiger vor.

Jugendforscher der Universitäten Hildesheim und Frankfurt stellten
Belastungen fest: Knapp 46 Prozent von rund 7000 befragten 15- bis
30-Jährigen stimmten der Aussage voll beziehungsweise eher zu, Angst
vor der Zukunft zu haben. «Es gibt ein hohes
Verantwortungsbewusstsein in der Pandemie, aber auch eine große
Frustration darüber, wie das Leben gerade reduziert ist», sagt die
Hildesheimer Sozialpädagogin Severine Thomas.

«Nach wie vor besteht eine große Angst, abgehängt zu werden, die
nächste Klausur, vielleicht sogar das Abitur nicht zu schaffen», sagt
Gustav Grünthal aus Osterholz-Scharmbeck. Den 17-Jährigen ärgert
enorm, dass Politiker behaupten, junge Leute seien unvernünftig. «Das
Gros der Jugendlichen hält sich an die Corona-Regeln», betont er.

Die Junge Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin
beklagte vor kurzem eine «Zunahme mittlerweile schwer zu
rechtfertigender massiver Einschränkungen und Gefährdungen des
Kindeswohls». Kindern und Jugendlichen fehlten neben ihren Freunden,
dem Erwerb sozialer Kompetenzen und dem spielerischen Lernen auch der
geregelte Tagesablauf sowie außerschulische Aktivitäten.

«Die Jugendlichen werden depressiver, Ängste und Essstörungen nehmen

zu», sagt Gerd Schulte-Körne, Direktor der Klinik für Kinder- und
Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universität
München. «Wir haben eine große Inanspruchnahme im zweiten Lockdown,
es gibt so viel Not in den Familien.»

Vergangene Woche schickte Julia Asbrand, Psychologin und
Wissenschaftlerin an der Berliner Humboldt-Universität, im Namen
vieler Kolleginnen und Kollegen einen offenen Brief an die
Bundesregierung. Bundesweit zeigten sich bei Kinder- und
Jugendpsychiatern sowie Psychotherapeuten vermehrt Aggressionen,
Schlafstörungen, Schulängste, Essstörungen, Depressionen und
Drogenmissbrauch bei jungen Menschen, hieß es darin.

«Menschen sind soziale Wesen, die nicht nur in der Kernfamilie
funktionieren», sagt Asbrand. Bei Jugendlichen sei das ein ganz
großes Thema. «Sie haben als Aufgabe und Ziel, sich abzugrenzen, also
aus der Familie hinauszugehen und sich andere Kontakte zu suchen. Und
gerade das ist jetzt nicht möglich.»

Die Autonomie-Entwicklung, das sich selbst Erproben und Erleben, sei
coronabedingt eingeschränkt, gleichzeitig erlebten viele Jugendliche
ihre Eltern extrem gestresst, sagt auch Jugendpsychiater
Schulte-Körne. Zur Prävention psychischer Erkrankungen in der
Pandemie hat sein Klinik-Team die Internet-Seite «Corona und du»
eingerichtet. Dort finden sich Tipps zu Stressabbau, positivem
Denken, Kontakthalten mit Freunden sowie zu Ernährung und Bewegung.

Die Altersspanne zwischen 10 und 18 Jahren sei ohnehin eine besonders
vulnerable Lebensphase, erklärt Marcel Romanos, Direktor am Zentrum
für Psychische Gesundheit der Kinder- und Jugendpsychiatrie am
Universitätsklinikum Würzburg. «Da passiert viel: körperlich,
hormonell, psychisch.» In der Pubertät steige das Risiko für
bestimmte psychische Erkrankungen wie Depressionen, emotionale
Störungen sowie selbstverletzendes Verhalten.

Insgesamt von einer verlorenen Generation Corona zu sprechen, hält
der Jugendpsychiater allerdings für übertrieben. «Kinder sind
grundsätzlich sehr anpassungsfähig und haben gute
Kompensationsstrategien», ist Romanos überzeugt. So könne der
Austausch mit Freunden derzeit über soziale Medien beziehungsweise
Videospiele funktionieren oder der Sport auch allein im Freien.

Doch bei jeder Verlängerung des Lockdowns müssen die Jugendlichen
weiter durchhalten. Belastend sei die fehlende Planbarkeit -
besonders für diejenigen, die kurz vor dem Schulabschluss stünden,
sagt Julia Seefried aus dem schwäbischen Unterthürheim. «Es gibt
keine Möglichkeit für uns, über die nächste Woche hinauszudenken.
»
Die 16-Jährige beteiligte sich an der Entwicklung der
Corona-Forderungen des Stifterverbandes. Zu ihnen zählen eine
transparente Kommunikation mit Jugendlichen sowie mehr politische
Teilhabe.

Am 11. März veranstaltet das Bundesfamilienministerium ein
Jugend-Hearing, bei dem es um «Corona, Jugend und die Folgen» gehen
soll. Dies kündigte Ministerin Franziska Giffey nach einem digitalen
Treffen mit acht 15- bis 24-Jährigen an. Die besonderen
Herausforderungen für die junge Generation und ihre Sorgen müssten
stärker berücksichtigt werden, sagt die SPD-Politikerin. «Es geht
dabei nicht nur um verpassten Unterricht.» Für die persönliche
Entwicklung seien soziale Begegnungen und der direkte Kontakt zu
Freunden sehr wichtig. Giffey betont: «Es sind im letzten Jahr nicht
nur Bildungslücken, sondern auch Bindungslücken entstanden.»