Merkels «Wir», die MPs und die Verantwortung in Corona-Zeiten Von Jörg Blank und Jennifer Weese, dpa

Die Ministerpräsidenten der Länder haben der Kanzlerin erneut
gezeigt, wo die Grenzen ihrer Macht liegen. Doch Merkel spielt den
Ball zurück.

Berlin (dpa) - Eines macht Angela Merkel klar, unmissverständlich:
Die Verantwortung dafür, dass die Menschen in Deutschland seit
Monaten unter drastischen Corona-Beschränkungen leiden und wegen
aggressiver Mutanten eine dritte Infektionswelle droht, will sie
nicht allein tragen. Die Kanzlerin sagt immer «Wir», als sie am
Donnerstag in ihrer Regierungserklärung im Bundestag zu den Lehren
kommt, die gezogen werden müssten. Jeder im Hohen Haus dürfte
verstehen, wen Merkel mit ihrem «Wir» vor allem meint: die
Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten.

Immer wieder haben die Regierungschefs der Länder die Kanzlerin bei
ihrem vorsichtigen Kurs im Kampf gegen das Virus ausgebremst. Seit
Beginn der Pandemie ist es das Thema Bildung - die Kitas, die Schulen
-, an dem sich Kanzlerin und Länderchefs entzweien. Am Mittwoch
wieder: In der jüngsten Videorunde kann sich Merkel nicht mit ihrem
eigentlichen Ziel durchsetzen. Wegen der wohl wesentlich
ansteckenderen Virus-Varianten wollte sie, dass wenigstens noch zwei
Wochen mit dem Öffnen von Kitas und Grundschulen gewartet wird.

Merkel machtlos? Schon bei ihrem Auftritt mit Michael Müller (Berlin,
SPD) und Markus Söder (Bayern, CSU) am Abend entschließt sie sich zu
einem ungewöhnlichen Eingeständnis. Sie habe «bestimmte eigene
Vorstellungen gehabt», aber im Föderalismus zähle nun mal die
Kultushoheit. «Da ist es ganz einfach nicht möglich, dass ich als
Bundeskanzlerin mich so durchsetzen kann, als hätte ich da ein
Vetorecht.» In den Worten liegt auch eine Botschaft: Nun haben andere
die Verantwortung, wenn es schiefläuft.

Ein paar Stunden später im Bundestag wird Merkel noch deutlicher.
Kurz blickt sie auf den Sommer zurück, in dem man nach der ersten
Corona-Welle wieder leichter habe leben können, «bei Inzidenzen, die
heute traumhaft erscheinen». Nur drei oder vier Ansteckungen über
sieben Tage auf 100 000 Einwohner. Aktuell sind es gut 64. Den
Höchststand gab es am 22. Dezember mit fast 198.

Doch dann, «dann waren wir nicht vorsichtig genug und nicht schnell
genug», klagt die ehemalige CDU-Vorsitzende. «Wir haben auf die
Anzeichen der zweiten Welle und die Warnungen verschiedener
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hin nicht früh und nicht
konsequent genug das öffentliche Leben wieder heruntergefahren.»

Es klingt, als räume Merkel Fehler ein. Doch da ist es wieder, das
«Wir». Sie selbst beziehe sich bei ihren Forderungen ja immer auf den
Rat der Experten, schwingt in dem Satz mit. Wer will, kann ihn auch
als Vorwurf in Richtung der Länder verstehen.

Bei ihrer vorigen Regierungserklärung habe man Wochen dramatischen
exponentiellen Wachstums der Infektionszahlen hinter sich gehabt,
erinnert Merkel an die Zeit Ende November. Zwar habe man das steile
Wachstum beenden können. Aber noch bis in den Januar habe sich das
Virus «viel zu schnell und viel zu unkontrolliert» verbreitet. «Eine

Folge, dessen bin ich sicher, von zögerlichem Vorgehen ausgangs des
Sommers und im Herbst.» Zögerliches Vorgehen - auch dies dürfte auf
die Länder-Regierungschefs gemünzt sein.

Doch ein direkter Vorwurf ist aus Merkels Mund natürlich nicht zu
hören. In getragenem Ton wirbt die Kanzlerin darum, auch die jüngste
Verlängerung des Lockdowns mitzutragen - auch wenn bei Bürgern die
Ungeduld und in der Wirtschaft die Angst vor Massenpleiten wächst.
Keinen einzigen Tag vergesse sie, was die Maßnahmen bedeuteten, sagt
Merkel fast beschwörend: «Eine in der Bundesrepublik so nie erlebte
zeitweilige gravierende Einschränkung der Freiheit. Schwere
persönliche Belastung. Einsamkeit. Wirtschaftliche Sorgen.
Existenzängste.»

Und weil die Kanzlerin um die Oppositionskritik an einer mangelnden
Beteiligung des Bundestags weiß, fügt sie hinzu, alle Maßnahmen seien

nach demokratischen Regeln beschlossen worden. «Das macht es
rechtmäßig», sagt Merkel. «Aber ich weiß sehr wohl: Als Demokrati
e
sind wir auch verpflichtet, diese Einschränkungen keinen Tag länger
aufrecht zu erhalten als nötig. Und sie aufzuheben, wenn ihre
Begründung entfällt.» Genau das sei das Ziel der Bundesregierung -
ein Zwischenruf der AfD-Abgeordneten Beatrix von Storch wird von
Beifall der CDU/CSU übertönt.

Was dann in der Aussprache kommt, ist weitgehend erwartbar. Manches
klingt nach Superwahljahr. AfD-Fraktionschefin Alice Weidel hält
Bundesregierung und Ministerpräsidenten verfassungswidriges Treiben
vor: «Eine von der Verfassung nicht vorgesehene Kungelrunde
beschließt im Hinterzimmer weitreichende Eingriffe in das Leben und
die Freiheit der Bürger.» Worauf der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf
Mützenich kurz darauf zurückkeilt, wenn jemand gegen die Verfassung
verstoße, dann jene, die die Gefahren kleinredeten.

FDP-Fraktionschef Christian Lindner wiederholt die Klage, die
Bund-Länder-Runde übergehe das Parlament. Auch Grünen-Kollegin Katrin

Göring-Eckardt argumentiert in diese Richtung. Lindner kritisiert,
viele hätten sich «mehr erwartet als einen frischen Haarschnitt».
Doch so sehr er sich müht, die Aufmerksamkeit der Kanzlerin zu
erringen - Merkel wischt auf ihrem Handy herum und schaut nur
geradeaus. Zwischendurch tauscht sie sich mit Finanzminister Olaf
Scholz aus - es wirkt, als würden sich Kanzlerin und
SPD-Kanzlerkandidat gut verstehen.

Eine in den eigenen Reihen viel beklatschte Rede hält der
CDU/CSU-Fraktionschef. Ralph Brinkhaus lobt einerseits in Richtung
Merkel, Deutschland stehe bei den Infektionszahlen international sehr
gut da. Zugleich wirft er Lindner vor, die Krise parteipolitisch
auszuschlachten. Dann kritisiert er die Regierung doch noch indirekt,
als er bemängelt, das Land sei nicht ausreichend auf die nächste
große Katastrophe vorbereitet. Die Mixtur kommt gut an bei vielen in
den Unionsreihen.

Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch hält Merkel dann noch vor, sie
habe «auch heute wieder null Selbstkritik» geäußert. «Diese
Papst-Attitüde der Unfehlbarkeit, die ist in dieser Situation
unangebracht.» Merkel wird die Bemerkung kaum beeindruckt haben.
Spätestens in knapp drei Wochen, am 3. März, muss sie mit den
Ministerpräsidenten erneut beraten, wie es mit dem Lockdown
weitergeht. Wer weiß, ob die Regierungschefs ihr dann wieder zeigen,
wo die Grenzen ihrer Macht liegen. Für unfehlbar halten sie die
Kanzlerin jedenfalls nicht.