Aufschrei im Handel: Lockdown-Verlängerung sorgt für Entsetzen Von Erich Reimann, dpa

Die Hoffnungen von Handel und Gastronomie auf einen Zeitplan für die
Wiedereröffnung der Läden sind von der Bundesregierung enttäuscht
worden. Das sorgt für viel Verbitterung. Händler klagen über einen
«Supergau» und einem «schwarzen Tag für den Handel».

Berlin (dpa) - Entsetzen im Einzelhandel, Fassungslosigkeit in der
Gastronomie: Die Entscheidung von Bund und Ländern zur Verlängerung
des Corona-Lockdowns ohne eine konkrete Öffnungsperspektive für die
Innenstädte hat am Donnerstag zu einem Aufschrei bei vielen
Betroffenen geführt. Der Handelsverband Textil (BTE) sprach von einem
«Supergau für den stationären Fashionhandel». Der Chef der
Handelsgruppe Tengelmann (Obi, Kik), Christian Haub, bewertete die
Beschlüsse als «schwarzen Tag für den Handel». Der Deutsche Hotel-

und Gaststättenverband (Dehoga) berichtete von «Frust und
Verzweiflung» in der Branche. Lediglich die Friseure konnten
aufatmen.

Der Handelsverband Deutschland (HDE) warf der Politik Wortbruch vor.
«Die Politik hat ihre Hausaufgaben nicht gemacht und bleibt in dieser
für uns alle dramatischen Situation den vor Wochen versprochenen Plan
zum Ausstieg aus dem Lockdown schuldig», klagte
HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth in Berlin.

Jeder durch den Lockdown verlorene Verkaufstag kostet die
Einzelhändler laut HDE Umsätze in Höhe von rund 700 Millionen Euro.
«Viele Händler wissen nicht mehr, wie es weitergehen soll. Die
Situation ist oft aussichtslos: Keinerlei Planungssicherheit, kein
Licht am Ende des Tunnels und nach wie vor unzureichende staatliche
Unterstützung», klagte Genth.

Der Handelsverband malte ein düsterer Bild der Auswirkungen der
Verlängerung des Winter-Lockdown für den stationären Handel in den
Innenstädten und Einkaufszentren. Selbst wenn die Mode-, Schmuck- und
Elektronikläden bereits im März wieder öffnen dürften, werde der
Umsatz im sogenannten Non-Food-Bereich im Gesamtjahr 2021 um 15
Prozent oder 25 Milliarden Euro unter dem Niveau des Vorkrisenjahres
2019 liegen. Verzögere sich die Öffnung bis in den Mai bedeute liege

das Minus sogar bei 29 Prozent - oder 47 Milliarden Euro.

Viele Händler würden das nicht überleben, sagte Genth. Ging der HDE
bisher davon aus, dass die Krise zu bis zu 50 000 Insolvenzen und dem
Verlust von bis zu 250 000 Arbeitsplätzen führen könne, so blickt der

Verband inzwischen noch pessimistischer in die Zukunft. «Die 50 000
sehen wir mittlerweile als untere Grenze. Es können deutlich mehr
werden», sagte Genth. Bei einer Umfrage des HDE gaben fast zwei
Drittel der Innenstadthändler an, ihr Geschäfte in diesem Jahr ohne
weiter Hilfen voraussichtlich aufgeben zu müssen.

Auch das Gastgewerbe zeigte sich tief enttäuscht über den Mangel an
Perspektiven für die Branche. Dehoga-Hauptgeschäftsführerin Ingrid
Hartges, sagte: «Dass Hotels und Restaurants in dem vorliegenden
Beschluss mit keinem Wort erwähnt werden, löst in der Branche Frust
und Verzweiflung aus.» Die Branche erwarte spätestens zu den nächsten

Beratungen von Bund und Ländern am 3. März einen abgestimmten
Fahrplan für den Re-Start des Gastgewerbes.

Das Friseurhandwerk reagierte dagegen mit großer Erleichterung auf
die von Bund und Ländern beschlossene Öffnung von Friseursalons am 1.
März. «Eine ganze Branche atmet auf, endlich haben wir eine
Perspektive und Planungssicherheit», erklärte Harald Esser, Präsident

des Zentralverbandes. «Wir bekommen unzählige Mails und Anrufe -
eigentlich will jeder Kunde schon in der ersten Woche drankommen.»

In den anderen Branchen stieß die Extrawurst allerdings nur auf
begrenztes Verständnis. «Ich gönne es jedem Friseur, dass er seinem
Handwerk wieder nachgehen kann», sagte HDE-Hauptgeschäftsführer
Genth. «Aber ich würde es auch jedem Einzelhändler gönnen, dass er

eine Chance bekommt, seinen Laden zu retten.»

Tengelmann-Miteigentümer Haub, zu dessen Firmenimperium auch die
Baumarktkette Obi und der Textil-Discounter Kik gehören, warf der
Politik vor, sie nehme mit ihrer Nicht-Öffnungsstrategie für den
Handel «das langsame Sterben einer ganzen Branche sehenden Auges in
Kauf». Dabei habe der Handel mit ausgefeilten Hygienekonzepten große
Anstrengungen unternommen, um den Einkauf sicher zu machen. Der
Handel habe deshalb auch nicht zu den Stellen gehört, wo das Virus
verstärkt verbreitet worden sei.

Auch der Chef des Textil-Discounters Kik, Patrick Zahn, bezeichnete
die Beschlüsse von Bund und Ländern als katastrophal. «Es ist fatal.

Es ist ideenlos. Ich bin entsetzt. Ich möchte mir nicht ausmalen, wie
unsere Innenstädte am Ende aussehen werden», sage er.

Der Geschäftsführer des Kölner Instituts für Handelsforschung (
IFH),
Boris Hedde, warnte vor den immer gravierender werdenden Folgen des
Lockdowns. «Am Anfang brachte der Lockdown vor allem Einzelhändler
mit schlechten Geschäftsmodellen in Schwierigkeiten, aber
mittlerweile trifft er auch die guten Anbieter hart.»

Auf scharfe Kritik stieß bei vielen Betroffenen auch die Festlegung
einer neuen Inzidenzzahl von maximal 35 Neuinfektionen pro 100 000
Einwohnern binnen einer Woche als Voraussetzung für die
Wiedereröffnung der Geschäfte. «Wenn der Inzidenzwert darüber
bestimmt, wie es weitergeht, ist das für den Handel katastrophal.
Dadurch gib es überhaupt keine Planungssicherheit», sagte der
Geschäftsführer des Kölner Handelsforschungsinstituts EHI, Michael
Gerling.

Auch der HDE kritisiert diese Grenze als willkürlich. Notwendig seien
abgestufte Verfahren, die bereits bei höheren Zahlen Öffnungen mit
strengeren Hygienevorgaben oder auch den Einkauf mit vorheriger
Terminvereinbarung möglich machten.

Der Verband der Deutschen Möbelindustrie (VDM) warnte vor den
Auswirkungen des verlängerten Lockdowns auf die Hersteller. «Die
Schließung der Möbelhäuser schlägt voll auf die Industrie durch - m
it
Folgen für die Arbeitsplätze und den Produktionsstandort
Deutschland», sagte VDM-Geschäftsführer Jan Kurth. «Aus dem langen

Lockdown könnte für einige Hersteller schließlich ein Knockout
werden.»