Ziellinie der Pandemie: Tritt Herdenimmunität ein - und wann? Von Gisela Gross, dpa

Seit dem Frühjahr 2020 hieß es: Zwei Drittel der Bevölkerung sollten

geimpft sein, um die Pandemie zu stoppen. Im Licht ansteckenderer
Corona-Varianten zeichnet sich nun ab: Das wird wohl nicht reichen.

Berlin (dpa) - Das klingt nicht gut: Eine Metropole in Brasilien, in
der die große Mehrheit der Bevölkerung schon mit dem Coronavirus
infiziert gewesen sein soll, erlebt gerade einen zweiten Kollaps des
Gesundheitssystems. Auslöser ist - nach Monaten relativer Ruhe -
wieder Sars-CoV-2. Die Annahme einer erreichten Herdenimmunität:
widerlegt? Welchen Anteil haben Virusmutationen an der Lage? Und
droht so etwas auch hierzulande? Diese Fragen stellen sich anhand von
Studienergebnissen und Medienberichten zur Lage in Manaus.

Die Nachrichten aus der Hauptstadt des Bundesstaates Amazonas mit
mehr als zwei Millionen Einwohnern lassen aufhorchen: Es fehlen
Krankenhausbetten und Sauerstoff, Patienten werden in andere
Bundesstaaten ausgeflogen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO)
organisierte Hilfslieferungen: Sauerstoff, Thermometer, Schnelltests.

Besonders verwunderlich an der Entwicklung ist, dass Forscher dort
die theoretische Schwelle zur Herdenimmunität überschritten glaubten:
Im Januar schätzten brasilianische Experten im Fachblatt «Science»
den Anteil der Bewohner von Manaus, die sich bis Oktober infiziert
hatten, auf mehr als 70 Prozent. Sie hatten Proben von Blutspendern
auf Corona-Antikörper untersucht.

Mit Herdenimmunität ist ein Schutz durch die Gemeinschaft gemeint:
Davon profitieren etwa Menschen, die aus medizinischen Gründen nicht
geimpft werden können. Ist eine ausreichende Zahl der Bevölkerung
geimpft oder nach durchgemachter Erkrankung immun, breitet sich der
Erreger kaum noch aus - und gelangt weniger zu anfälligen Personen.

Aber einen einheitlichen Schwellenwert gibt es nicht. «Wie viele
Immune tatsächlich notwendig sind, damit dies funktioniert, hängt
davon ab, wie ansteckend die jeweilige Erkrankung ist und wie gut die
Impfung wirkt bzw. wie lange der Impfschutz anhält», erklärt das
Robert Koch-Institut (RKI) in einem Infoblatt. Bei Sars-CoV-2 ist
bisher zudem unklar, ob Geimpfte das Virus noch übertragen und wie
lange eine Immunität anhält.

Dennoch dürfte bei vielen Menschen die Botschaft hängengeblieben
sein, dass die Pandemie quasi gestoppt ist, wenn sich genug Menschen
infiziert haben oder durch Impfungen immun geworden sind. Seit dem
Frühjahr beziffern Experten den Anteil, der für den erhofften Effekt
nötig ist, auf zwei Drittel der Bevölkerung, etwa 67 Prozent. Die
Zahl fußt auf der Annahme, dass ein Infizierter im Schnitt drei
Menschen anstecken würde, wenn keine Maßnahmen in Kraft sind und
niemand immun ist - die Basisreproduktionszahl (Basis-R-Wert).

Was aber ist dann in Manaus passiert? Im Journal «The Lancet» nennen
Forscher mehrere Erklärungen, die sich nicht gegenseitig
ausschließen. Demnach könnten die Schätzungen der Infektionen zu hoch

gewesen sein. Auch die in der ersten Welle erlangte Immunität könnte
möglicherweise im Dezember wieder geschwunden sein, so die Autoren.
Hinzu komme der Nachweis von Corona-Varianten in Manaus, die dem
Immunsystem von Genesenen entgehen und erneut Infektionen
verursachen. Und die offenbar ansteckender sind als frühere Formen.

Ein ansteckenderes Virus hat auch eine höhere Basisreproduktionszahl:
Die Kalkulation vom Frühjahr, dass ein Infizierter im Schnitt drei
Menschen ansteckt, müsste bei einer Verbreitung von Varianten
angepasst werden. Das heißt, dass Herdenimmunität nicht bereits bei
67 Prozent erreicht wäre, sondern erst bei einem höheren Anteil. Die
Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim rechnete auf ihrem
Youtube-Channel MaiLab vor, dass die Schwelle etwa bei einem
Basis-R-Wert von fünf bei 80 Prozent läge.

Das sind jedoch theoretische Überlegungen. In der Praxis tragen laut
dem Virologen Christian Drosten viele weitere Faktoren bei, wie
Kontaktnetzwerke und -häufigkeit. Das sagte er kürzlich im
«Coronavirus-Update» bei NDR-Info. Wahrscheinlich bildeten sich in
Kombination mit milden Corona-Maßnahmen schon Schutzeffekte, wenn
weniger als zwei Drittel der Bevölkerung geimpft sind. Denn das Virus
verbreite sich vor allem durch Ausbrüche. Stellt man sich Netzwerke
von Übertragungen vor, könnten ab einer gewissen Schwelle wichtige
Verbindungen zwischen Ausbrüchen nicht mehr geschlossen werden.

Über Manaus sagte der Charité-Forscher, eine erneute Welle schwerer
Verläufe sei in einer bereits durchinfizierten Bevölkerung nicht
wirklich zu erwarten. Auch andere Experten rechnen damit, dass
Patienten im Fall einer zweiten Ansteckung mildere Symptome bekämen.
Drosten bezweifelt daher die Annahme, in Manaus sei 2020 bereits eine
Herdenimmunität entstanden.

Der Epidemiologe Rafael Mikolajczyk von der Uniklinik Halle betont
auf dpa-Anfrage, dass auch 30 Prozent empfängliche Bürger viel seien,
wenn eine neue Virusvariante so viel infektiöser ist, dass die
Epidemie sich erneut ausbreiten könne. Der Anteil sei groß genug, um
ein Gesundheitssystem zu überlasten. In Deutschland hätten vermutlich
bisher weniger als 10 Prozent der Bevölkerung Corona gehabt - und
selbst diese geringe Zahl habe schon beinahe eine Überlastung
bewirkt, erläutert er. Offiziell erfasst sind in Deutschland nur rund
2,3 Millionen Fälle - etwa 2,8 Prozent der Bevölkerung. Zur Frage der
Dunkelziffer läuft noch eine Studie am RKI.

«Von einer Herdenimmunität, die aufgrund durchgestandener Infektionen
zustande kommt, sind wir noch sehr weit entfernt. Gerade mit den
neuen Varianten ist es kein realistisches Szenario und auch mit der
Impfung sind wir erst am Anfang», meint Mikolajczyk. Er halte die
Fortsetzung und möglicherweise eine Verschärfung der aktuellen
Maßnahmen für notwendig: Damit es nicht zu einem exponentiellen
Wachstum der Infektionen mit den neuen Varianten kommt, bevor
ausreichend viele Menschen geimpft sind, um die Zahl der Todesfälle
niedrig zu halten. In Deutschland bereitet derzeit vor allem die in
Großbritannien gefundene Variante B.1.1.7 Sorgen.

Der Präsident der Gesellschaft für Virologie, Ralf Bartenschlager,
sagte der dpa kürzlich, er halte Herdenimmunität durch konsequente
Impfungen trotz der Varianten für das entscheidende Mittel, um der
Pandemie entgegenzutreten. «Wie weit wir damit kommen - ob wir eine
vollständige Kontrolle im Sinne einer Vermeidung von Infektionen
erreichen -, kann man im Moment nicht abschließend sagen.»

Ohnehin wird Herdenimmunität nach Ansicht Drostens nicht schlagartig
erreicht sein. Er verwies auf erste Daten aus Israel, die ermutigend
seien: Demnach sank die Rate der Krankenhausaufnahmen bereits in
Altersgruppen, in denen ungefähr jeder Zweite geimpft war.

Allerdings betonen Wissenschaftler, dass es selbst in einer im
Durchschnitt gut geimpften Bevölkerung immer Gruppen mit nicht so
vielen Geimpften gebe. Auch eine natürlich verlaufende Epidemie
hinterlasse keine zufällig verteilte Immunität, so Mikolajczyk. Es
bleiben somit Bereiche, in denen es zu Ausbrüchen kommen kann, sobald
das Virus eingeschleppt wird. Dafür sind die hochansteckenden Masern
seit Jahren ein Beispiel.