Merkel, die Mutanten und eine relative Machtlosigkeit Von Marco Hadem und Jörg Blank, dpa

Die Infektionszahlen gehen endlich nach unten. In den vergangenen
Wochen hat sich die tiefrote Corona-Deutschlandkarte endlich wieder
aufgehellt. Genau dahinter verbergen sich Gefahr und Chance zugleich.

Berlin (dpa) - Ein solches Eingeständnis hat es von Angela Merkel
wohl noch nie gegeben: Dass die Länder theoretisch ab kommender Woche
an Grundschulen und Kitas den Lockdown selbst beenden können, habe
sie nicht verhindern können. «Da ist es ganz einfach nicht möglich,
dass ich als Bundeskanzlerin mich so durchsetzen kann, als hätte ich
da ein Vetorecht», sagt Merkel nach der mehrstündigen Konferenz von
Bund und Ländern in Berlin.

Dass die mächtigste Frau der Welt am Mittwochabend so offen von den
föderalen Grenzen ihrer Macht spricht und diese dann auch noch lobt,
zeigt, wie groß der Spagat ist, der Merkel zur Bekämpfung der
Corona-Krise im Februar 2021 gelingen muss.

Einerseits wächst mit den endlich sinkenden Infektionszahlen in
Bevölkerung und Wirtschaft die Ungeduld: Wann kann das Land nach
monatelangem Lockdown wieder hochfahren? Wann öffnen Geschäfte und
Restaurants - und ist so eine Massenpleite noch zu verhindern? Auf
der anderen Seite, so erklären Kanzlerin und Länderchefs, sind die
aggressiven und heimtückischen Mutationen des Coronavirus auch in
Deutschland leider schon Realität. Die Zahl der Mutationen werde
damit zunehmen. «Die Frage ist, wie schnell.» Merkels Fazit ist
ernüchternd: Die Basis für eine dritte Welle sei damit angelegt.

Die Mutation werde die Oberhand gewinnen, das konkrete Verhalten
könne noch nicht vorhergesehen werden, betont Merkel. «Darum müssen
wir runter, runter, runter mit den Fallzahlen.»

Zur Lösung des Dilemmas setzen Bund und Länder im Kern auf die
Fortführung der bisherigen Lockdown-Strategie. Zunächst bis zum 7.
März soll das öffentliche Leben im Land - abgesehen von Schulen und
Kitas sowie ab 1. März auch den Friseuren - heruntergefahren bleiben.
Bei der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz am 3. März sei dann
klarer erkennbar, wie sich die Lage entwickeln könne.

Zwei Monate nach Beginn des harten Lockdowns ist eine Verlängerung
eigentlich nichts Neues. Neu ist aber der Weg dorthin. Denn anders
als in den vergangenen Konferenzen konnten Merkel und ihre
Unterstützer des vorsichtigen Kurses den lockerungswilligen
Ministerpräsidenten zur Begründung keine gesicherte Zahlen als
Gegenargument liefern. Die vielen Infektionen in den Grenzgebieten
und die Erfahrungen anderer Länder mit den aggressiven Virus-Mutanten
überzeugten zunächst nicht jeden.

Dass Merkel aber in der mehr als vierstündigen Beratung sehr wohl
immer das Heft des Handelns in der Hand hat, zeigt sich schon am
frühen Mittwochmorgen. Im Entwurfspapier für die Verhandlungen taucht
für viele überraschend eine Verlängerung des Lockdowns bis Mitte Mä
rz
auf. Im Gegenzug offeriert das Papier den Länder «im Rahmen ihrer
Kultushoheit» besagte freie Hand für Schulen und Kitas.

Dass das Kanzleramt im Bildungs-Passus seines Entwurfs den Ländern
dann doch freie Hand für die schrittweise Rückkehr zum
Präsenzunterricht und die Ausweitung der Kindertagesbetreuung gibt,
könnte als Einknicken der Kanzlerin gewertet werden. Oder als
taktischer Zug, da Merkel weiß, dass die Länder sich im Schul- und
Kultusbereich ohnehin nicht reinreden lassen.

Die Reaktionen der Ministerpräsidenten sind vielfach alles andere als
zustimmend. Von einem «Holzhammer» ist die Rede, von einer
«Trotzhaltung». Folge: Die für 11.00 Uhr angesetzte erste
Verhandlungsrunde der Ministerpräsidenten ohne Merkel muss um mehr
als eine Stunde verschoben werden. Den Zeitverzug kann die Runde über
den Tag nicht mehr aufholen - auch die für 14.00 Uhr angesetzte
Hauptverhandlung kann nur mit langer Verspätung losgehen.

Warum Merkel so handelt, hat sie schon am Vortag in der
Online-Sitzung der Unionsfraktion erläutert, und sie betont es auch
am Mittwoch: Für sie sei das Maß der Lockerungen die Unterschreitung
der 50er-Inzidenz bei den Neuansteckungen pro 100 000 Einwohner
binnen einer Woche. Aktuell liege der Wert deutschlandweit bei 68.

Abgesehen von der Sorge wegen der Mutationen müssen Merkel und die
Länder aber noch etwas anderes bedenken: Die coronamüde Bevölkerung

muss weiter mitziehen, ansonsten ist jeder Plan hinfällig. Und dazu
brauchen die Menschen eine Perspektive und direkte Ansprachen.

Genau diesen Weg hat Merkel bereits aufgenommen. Immer wieder stellt
sich die Kanzlerin vor Kameras und Mikrofone. Dazu passt auch, dass
sie an diesem Donnerstag im Bundestag ihre nächste
Regierungserklärung zur Pandemie abgeben wird.

Was die weiteren Perspektiven angeht, so setzt das Konzept auf Zeit.
Ab einer landesweiten - stabilen - Inzidenz von 35 sollen
schrittweise Handel und Kultur wieder geöffnet werden können. Das
konkrete Konzept bleibt die Konferenz zwar trotz zahlloser
Forderungen der Öffentlichkeit schuldig, gleichwohl ist aber die
Aussicht darauf klar wie lange nicht erkennbar. In den vergangenen 16
Tagen sei die Inzidenz um 43 Punkte gefallen, betont Merkel. Das Ziel
der 35 sei also durchaus in Sichtweite.

Ob am Ende wirklich ab März auch in Deutschland die Mutationen die
dritte Welle mit exponentiell wachsenden Fallzahlen mit sich bringen,
weiß niemand sicher. Klar ist nur: Je niedriger die Fallzahlen dann
sind, desto besser kann das Land die kommenden Wochen überstehen.

Bei den Verhandlungen kommt Merkel aber noch etwas zugute: Zum einen
genieße sie - so heißt es von Länderseite - parteiübergreifend gro
ße
Autorität. Denn letztlich habe die Kanzlerin bisher mit ihrem
besonders vorsichtigen Kurs immer Recht behalten. Zum anderen wolle
niemand durch einen Alleingang am Ende die alleinige Verantwortung
übernehmen, sollten sich Merkels Befürchtungen wieder bestätigen. Und

noch eine Last muss Merkel nicht tragen: Anders als alle anderen am
Verhandlungstisch kann sie ohne jede Angst wegen kommender Wahlen
agieren, heißt es. Auch das darf niemand unterschätzen.