Ein Jahr nach Corona-Urknall in Gangelt: «Karneval fällt aus» Von Ulrike Hofsähs, dpa

Vor einem Jahr wurde Gangelt im Kreis Heinsberg über Nacht bekannt.
Die Kleinstadt war einer der ersten Coronavirus-Hotspots. Hier wird
weiter daran geforscht, wie das Virus funktioniert. Und das Bonner
Haus der Geschichte hat sich ein Souvenir gesichert.

Gangelt (dpa/lnw) - Die alarmierende Nachricht lautete: Zwei
Erkrankte mit Covid-19 im Krankenhaus Erkelenz. Guido Willems
erinnert sich. «Wir haben seinerzeit sofort gehandelt», sagt er über

die Reaktion des Krisenstabs im Kreis Heinsberg. Ab dem nächsten Tag,
es war Aschermittwoch, waren Schulen und Kindergärten geschlossen.
Die Nachricht verbreitete sich rapide über Chatgruppen. Dann wusste
die ganze Republik Bescheid.

Eine Karnevalssitzung am 15. Februar in dem zu Gangelt gehörenden
Örtchen Langbroich-Harzelt gilt als Urknall der Pandemie in NRW. Die
beiden Coronakranken hatten daran teilgenommen. Singen, Schunkeln und
fehlender Luftaustausch begünstigten Ansteckungen. Zwölf Tage später

gab es 20 bestätigte Covid-19-Fälle in dem Kreis an der
niederländischen Grenze, etwa Tausend Menschen waren
sicherheitshalber in Quarantäne. Dann kam die Wissenschaft: Der
Bonner Virologe Prof. Hendrik Streeck untersucht die Verbreitung des
Virus in Gangelt, einem der ersten bekannten Coronavirus-Hotspots in
Deutschland.

Damals war Guido Willems noch Büroleiter des Landrats. Im September
wurde der junge Politiker zum Bürgermeister seines Heimatorts Gangelt
gewählt. Das Coronavirus bestimmt wie überall noch den Alltag der
Kleinstadt mit 13 000 Einwohnern. Aktuell sei man auf einem guten Weg
mit den Fallzahlen, berichtet Willems. «Wenn man die Studie von Prof.
Streeck hochrechnet, müssten wir im letzten Jahr bis zur Studie 1800
Infizierte in der Gemeinde Gangelt gehabt haben», sagt der 39-jährige
CDU-Politiker. Er hält diese hohe Zahl für nicht unwahrscheinlich.
Offiziell gab es damals 350 Erkrankte.

Beim Blick zurück wird deutlich, wie wenig man wusste über das Virus.
Auch Willems litt nach Karneval unter Geschmacksverlust und
Kopfschmerzen. Heute weiß man, es sind typische Symptome. «Mit den
Erkenntnissen, die man damals hatte, wartete man auf Fieber und
Husten», erinnert sich der Bürgermeister. Er arbeitete weiter.

Im Nachhinein erscheint das Geschehen wie ein Miniaturausgabe des
späteren bundesweiten Lockdowns. In den Supermärkten begannen
Hamsterkäufe, Mehl wurde rationiert, Nudeln knapp und vor der
Apotheke bildete sich eine Schlange. Fernsehteams kamen zuhauf, die
Bewohner fühlten sich überrollt. Dann verlagerte sich das
Medieninteresse. Der Landrat wurde zum Sprachrohr.

Durch seine Facebook-Botschaften in rheinischem Klartext ist Landrat
Stephan Pusch inzwischen eine bundesweite Berühmtheit. In Talkshows
sitzt der CDU-Politiker neben Ministerpräsidenten und sagt was er
denkt. «Papa Pusch» stellt sich hinter seine Mitarbeiter, wenn sie am
Telefon beschimpft werden, und fordert ein Ende des
Distanzunterrichts. Der 52-Jährige mit dem freundlichen Blick nutzt
die Gestaltungskraft der Kommunalpolitik. Sein Kreis hat eine
Viertelmillion Einwohner, etwa so viele wie Gelsenkirchen.

Auf der berühmten Kappensitzung in Gangelt feierten wohl mehrere
Coronavirus-Infizierte mit. Das meinen Virologe Streeck und der
Bürgermeister. «Wir werden mehrere Infizierte gehabt haben, egal auf
welcher Sitzung», sagt Willems. Der Karnevalsverein «Langbröker Dicke

Flaa», um dessen Sitzung es geht, schweigt. Für Interviews,
Reportagen oder Statements stehe der Verein nicht zur Verfügung,
erklärt Sprecher Stefan Keulen. Aber das Haus der Geschichte in Bonn
hat sich einen Bierkranz und Getränkebons von der Veranstaltung
gesichert. Sie sollen symbolisch für den Beginn der Pandemie in
Deutschland stehen.

Die tollen Tage sind dieses Jahr auch in Gangelt abgesagt. «Der
Karneval fällt aus, in der Gemeindeverwaltung wird brav
durchgearbeitet», sagt der Bürgermeister.