«Die Angst zermürbt mich langsam» - Leben im Corona-Jahr 2020 Von Christoph Driessen, dpa

2020 geht zuende, Corona bleibt. In bisher unvorstellbarer Weise hat
die Pandemie das Leben in Deutschland verändert. Einige träumen nur
schlecht. Andere bangen um ihre Existenz.

Berlin (dpa) - Blago war 21, als er Sabine kennenlernte. Sie war 17.
Das war im Jahr 1971. Blago kam damals aus Kroatien nach Deutschland.
Ihre Familien waren anfangs gar nicht angetan von der Beziehung. Aber
Blago und Sabine wussten sehr schnell, dass sie ihr Leben zusammen
verbringen wollten. Sie heirateten und bekamen zwei Kinder. Die
Kinder wurden groß und zogen aus. Blago und Sabine blieben
unzertrennlich. Dann brach das Jahr 2020 an. Im Januar erfuhr Sabine,
dass sie Krebs hatte. Im Februar begann die Chemotherapie. Im März
kam Corona.

Als Folge der Schutzverordnungen durfte Blago das Krankenhaus bald
nicht mehr betreten. Er musste seine Frau beim Krankenhauspförtner
abgeben. «Wie einen Gegenstand. Ich durfte nicht ihre Tasche ins
Zimmer tragen. Ich durfte nicht ihren Schrank einräumen. Ich durfte
nicht bei ihr sein und sie umarmen. Ich war nicht da, um sie zu
trösten. Das war furchtbar. Ich kann es kaum beschreiben.» Auch ihre
Kinder und Enkelkinder durfte Sabine nicht mehr sehen. «Die Krankheit
war schon schlimm genug», sagt Blago. «Aber durch Corona wurde sie
zum Alptraum.»

DER VIELREISENDE

Corona hat das Leben zahlloser Menschen umgekrempelt. Einer von ihnen
ist Tobias Sauer aus Berlin. Er hat nichts Schlimmes durchgemacht,
und doch ist bei ihm nichts mehr wie es war. Der 37-Jährige ist
Journalist, in erster Linie Reisejournalist. Vergangenes Jahr kam er
auf 80 bis 100 Flüge. «Seit ich 16 bin, gebe ich im Prinzip mein
gesamtes Geld für Reisen aus», sagt er. «Ich habe keinen großen
Kleiderschrank und keine toll eingerichtete Wohnung, die ganze Kohle
fließt ins Reisen.» Jedenfalls war das bis März so. Seitdem ist er
kein einziges Mal mehr geflogen. Er ist zurückgeworfen auf seine
kleine Wohnung. Zum ersten Mal in seinem Leben hat er sich ein teures
Möbelstück gekauft, ein Sofa für fast 1000 Euro. Darauf sitzt es sich

bequem. Aber das Fernweh wird immer größer. Sauer träumt von Amerika.

«Stundenlang über die Highways düsen, immer stur geradeaus.» Noch

mehr als das Reisen fehlt ihm das Nachtleben. Die Berliner Musikclubs
sind seit März geschlossen. «Zu illegalen Geschichten bin ich nicht
hin, weil ich dachte, wir sind hier jetzt in einer Situation, wo man
ein bisschen aufpassen sollte. Es gab ein paar Open-Air-Geschichten,
aber das war natürlich eine ganz andere Stimmung. Die Uhrzeiten waren
andere. Es war nicht nachts, sondern tagsüber. Geradezu
spiegelverkehrt.»

Wenn er früher weggegangen ist, dann oft ohne Handy. Ein paar Stunden
war er unerreichbar, in einer anderen Welt. Er wusste dann auch
nicht, wie spät es war. Das ist jetzt ganz anders. «Man vergisst nie,
wo man ist. Man lebt im Corona-Jahr.»

DIE HAUSFRAU

Ja, es gibt sie, die positiven Veränderungen durch Corona. Wiebke und
ihre Familie aus Düsseldorf haben Freunde in Hamburg, die sie im
Videochat jetzt öfter sehen als vorher. Und ja, darüber hinaus hat
Wiebke Wochenspeisepläne entwickelt, um nicht mehr so oft einkaufen
gehen zu müssen. «Es ist entspannend, nicht jeden Tag übers Essen
nachzudenken. Außerdem sparen wir so bestimmt auch noch Geld.»

Das Negative fällt weit schwerer ins Gewicht. «Ich habe eine große
Phobie vor Menschenmengen entwickelt. Wenn ich zum Beispiel eine
Gruppe von Jugendlichen sehe, dann habe ich direkt negative Gedanken
und Gefühle, wie schlecht diese Menschen sind. Dabei sind das nur
Jugendliche, die absolut ihre sozialen Kontakte brauchen.»

Die 54-Jährige hat mittlerweile einen wiederkehrenden Alptraum: «Ich
träume regelmäßig, dass ich ohne Maske im Supermarkt stehe und wache

panisch auf. Ich hoffe, das endet nach Corona. Andererseits habe ich
- obwohl ich absolut keine Konzertbesucherin bin - geträumt, dass ich
mit Tausenden im Stadion stehe und Lieder von irgendeiner Band gröle.
War toll.»

Das Allerschlimmste aber ist für sie die fortwährende Angst, dass
sich jemand aus ihrer Familie infizieren und daran sterben könnte.
«Diese Angst zermürbt mich ganz langsam.»

DER ARBEITSLOSE

Heinz Krämer (42) aus Düren bei Aachen hat 21 Jahre lang Konzert- und
Showbühnen auf- und abgebaut. Ein Roadie, wie man in der Szene sagt.
«Wir waren nur unterwegs. Ich hab mehr Zeit auf der Straße verbracht
als zuhause bei Frau und Kindern. Der Job ist eben nicht nur ein Job,
sondern eine Leidenschaft.»

Dann wurde der Kultursektor im Zuge der Corona-Maßnahmen stillgelegt.
Die Firma, bei der er angestellt war, bekam keine Aufträge mehr. Nach
einem halben Jahr ging sie in die Insolvenz. Seitdem ist Heinz Krämer
arbeitslos. Was wird jetzt? Weiß er nicht. Wenn die Pandemie morgen
zu Ende wäre, hätte er sofort wieder Arbeit. Aber die Pandemie ist
nicht zu Ende. «Ein halbes Jahr halte ich es noch aus. Danach müsste
ich mich anderweitig umschauen.» Das Arbeitsamt hat ihm schon
signalisiert, dass sich da so schnell wohl nichts tun werde, er müsse
umschulen. Aber Heinz Krämer sträubt sich noch. Er hofft noch. Denn
er liebt ja seine Arbeit.

DIE LANDÄRZTIN

Christina Neumann ist Landärztin aus Denklingen bei Landsberg in
Bayern. Corona hat ihren Praxisalltag durcheinandergewirbelt. «Zum
einen ist es extrem schwierig, sich mit der Bürokratie
auseinanderzusetzen, weil wir permanent andere Regelungen dazu
bekommen, wie man welchen Corona-Abstrich wie abrechnet oder
codiert.»

Das andere ist der Umgang mit den Patienten. Jeden Tag kommen
Menschen zu ihr, die befürchten, dass sie sich mit Corona infiziert
haben. Diese Patienten dürfen möglichst nicht mit den anderen in
Kontakt kommen. Deshalb hat Christina Neumann eine spezielle
«Infekt-Sprechstunde» ab 11.30 Uhr eingeführt. Dazu werden immer nur

zwei Personen gleichzeitig in die Praxis eingelassen, die anderen
warten draußen im Auto. Bei dieser Behandlung trägt die Ärztin
Kittel, Maske und Visier. Das wäre vor Corona undenkbar gewesen. «Das
ist ja eine kulturelle Geschichte.» Vor Corona haben auch alle
erwartet, dass die Frau Doktor ihnen die Hand gibt. Mittlerweile
scheint das lange zurückzuliegen. «Ich hätte nicht gedacht, dass sich

eine Gesellschaft so schnell ändern kann», sagt Neumann.

Im Schnitt wird bei ihr ein Patient pro Woche positiv getestet.
«Natürlich hat man da auch als Ärztin ein etwas mulmiges Gefühl. Da

ist die Angst, einen Fehler zu machen und sich anzustecken. Auch das
Praxispersonal ist verunsichert. Ich kann schon sagen, dass es mein
härtestes Jahr ist.»

DIE THERAPEUTIN

Als im Frühjahr der erste Lockdown begann, gab es manch rosige
Zukunftsprognose. Mal runterfahren und entschleunigen, das werde der
Gesellschaft guttun, hieß es. Damals schien viele Wochen lang die
Sonne. Jetzt steht der Winter vor der Tür, und man hört solche Töne
eher nicht mehr. «Viele Menschen sind in einer deprimierten
Stimmungslage», sagt Conny Wien, Psychotherapeutin aus Dortmund.
«Stellen wir uns mal eine ältere Frau mit einem dementen Mann vor,
die vor Corona im Chor gesungen hat und sich jedes Jahr auf das
Weihnachtsoratorium gefreut hat. Für die ist alles weg, was das Leben
noch halbwegs erträglich gemacht hat.»

Wien kennt viele ältere Menschen, die sagen, dass ihnen Berührungen
fehlen. «Damit meinen sie nicht kuscheln oder küssen, sondern einfach
mal in den Arm genommen werden. Oder auch nur ein Handschlag oder
Schulterklopfen. Berührt werden im Gespräch, mal kurz die Hand aufs
Knie legen, zum Beispiel wenn der andere weint. Es macht etwas mit
den Leuten, wenn sie alleine mit ihren Tränen dasitzen.» Die
Psychologin befürchtet, dass da eine Qualität verloren geht, wenn das
alles noch viel länger anhält. Kann man menschliche Nähe verlernen?
Zurzeit kann man noch nicht mal eine Verkäuferin anlächeln. Da ist ja
die Maske. «Die meisten Leute gehen einkaufen und schnell wieder nach
Hause. Sie sehen zu, dass sie wieder in ihren sicheren Raum kommen.»
Manchmal komme es ihr vor, als hätte sich ein grauer Schleier über
das Land gelegt.

DER WITWER

Das Jahr 2020 geht zu Ende. Sabine hat es leider nicht geschafft. Sie
ist im Juni gestorben. Am Ende war die Isolation zum Glück
aufgehoben. Die Familie war bei ihr und konnte sich in Ruhe und Würde
von ihr verabschieden.

Nicht nur für Blago, aber für ihn ganz besonders war 2020 ein
Unglücksjahr. Dennoch steht er nicht mit leeren Händen da, wie er
findet. Mehr als alle Jahre zuvor hat ihm 2020 deutlich gemacht:
«Meine Sabine war ein besonderer Mensch mit großem, großem Herz. Die

Isolation hat uns nur noch enger zusammengeschweißt. Ich bin
unendlich dankbar dafür, dass ich fast 50 Jahre mit ihr zusammen sein
durfte.»