Knabenchöre kämpfen um jede Stimme Von Stephen Wolf, dpa

Abgesagte Konzerte und die schwierige Nachwuchssuche stellen die
Knabenchöre in Zeiten der Corona-Krise vor große Probleme. Einige von
ihnen sind sogar in ihrer Existenz bedroht.

Reutlingen/Stuttgart (dpa/lsw) - Keine Auftritte mehr, kein Nachwuchs
für den gemeinsamen Gesang, Existenzsorgen: Die Corona-Pandemie macht
auch vor den Knabenchören im Südwesten keinen Halt. Die ausfallenden
Konzerte reißen tiefe Löcher in einige Kassen der Gesangsvereine und
Sängerschaften, Sorgen um neue Mitglieder kommen noch dazu. Das
Problem treffe auch so gut wie alle der etwa 20 Knabenchöre in
Baden-Württemberg, sagt Christian J. Bonath vom Knabenchor «Capella
Vocalis» in Reutlingen. Erst vor wenigen Tagen hatten zahlreiche
Knabenchöre aus Deutschland, Österreich und der Schweiz mit Flashmobs
und Videoclips in den sozialen Medien um Nachwuchs geworben. Die
schwieriger werdende Anwerbung der Nachwuchssänger stelle auch die
Existenz einiger Ensembles infrage.

Für Frust sorge außerdem die Absage zahlreicher Konzerte. «Etwa 90
Prozent der geplanten Konzerte unseres Chors sind bisher dieses Jahr
ausgefallen», sagt Bonath. Die Verluste beziffert er auf 40 000 Euro.
Beim Blick auf das Jahresbudget von etwa 200 000 Euro des von Land
und Stadt Reutlingen geförderten Chors werde deutlich, wie groß die
Lücke schon jetzt sei. Ob Weihnachtskonzerte möglich sein werden, sei
unklar. Absagen treffen Chorsänger hart, zumal sie etwa
anspruchsvolle Stücke wie die Johannes-Passion monatelang proben,
sagt der Chorleiter.

Das sieht auch Rainer Johannes Homburg so, der Leiter der Stuttgarter
Hymnus Chorknaben. Seiner Meinung nach kann der Alltag in
Coronazeiten auch das Gefüge eines Chors beeinflussen. Um Abstände
einhalten zu können, werde bei den Chorknaben nun statt zwei Stunden
mit 40 Jungen zwei Mal eine Stunde in der Woche mit jeweils 20 Jungen
geprobt. So bleibe das Repertoire überschaubar.

Finden in diesem Jahr überhaupt Konzerte statt, dann meist mit
begrenzter Teilnehmerzahl um die Abstandsregeln einhalten zu können.
Statt 60 oder sogar 80 Jungen, träten dann gerade einmal ein Dutzend
Chorknaben - mithin die leistungsstärksten Sänger - auf. Das wiederum
führe zur Elitenbildung. Dabei sei es wichtig, dass alle Jungen den
Chor als funktionierende Gemeinschaft erleben, sagt Homburg. Fehle
zudem das Konzert als großes Ziel, gehe die Lust am Proben verloren.

Darüber macht man sich auch beim ökumenischen Knabenchor «Collegium
Iuvenum» in Stuttgart Gedanken. Zwar sei die zuverlässige Planung von
Auftritten unter den momentanen Bedingungen maximal erschwert und
sogar fast unmöglich. Geprobt werde dennoch. Eine gemeinsame Probe
ohne Abstände in größeren Gruppen könne jedoch «durch keine Fanta
sie
und Mühe, die derzeit in eine Corona-konforme Chorarbeit investiert
wird, ersetzt werden», betont Chorsprecherin Anja Kalischke-Bäuerle.
Eine feine klangliche Arbeit, die sich durch ein aufeinander Hören
und Reagieren auszeichne und so für musikalischen Fortschritt sorgt,
werde durch große Abstände zwischen den Sängern sehr erschwert.

«Aufgrund des Infektionsschutzes können wir aktuell nicht wie gewohnt
in den Schulen für unsere Chöre werben», sagt der Reutlinger
Chorleiter Bonath. Das sei problematisch, da Jungen zum Beispiel in
der Regel nur im Alter zwischen 10 und 14 Jahren die Sopranstimme
singen könnten. Würden Chöre weniger Jungen in dieser Altersgruppe
anwerben, fehle langfristig ein wichtiges stimmliches Element.

Im Kampf um den Nachwuchs wird in Stuttgart aktuell ein Konzept für
Online-Neuaufnahmen entwickelt. Man habe zum Beispiel gute
Erfahrungen mit der Online-Stimmbildung gemacht, sagt
Kalischke-Bäuerle. «Bei einigen wenigen Online-Vorsingen, die wir
bisher hatten, konnte man gut feststellen, ob eine Stimme gesund ist
und ob schon musikalische Grundkenntnisse vorhanden sind.» Der
Zulauf, den der Knabenchor «Collegium Iuvenum» vor Corona hatte, sei
aber nahezu versiegt.