Pandemie und Parteigezänk - Landtag streitet um Krisen-Kurs Von Nico Pointner, dpa

Die Corona-Regeln sind Zumutungen, da sind sich die Politiker im
Landtag einig. Aber sind sie alle nötig? Wie weit dürfen sie gehen?
Zwischen Lockdown und Lockerungen gehen die Meinungen auseinander.

Stuttgart (dpa/lsw) - Wäre nicht Corona, es wäre eigentlich alles wie
immer im Landtag. Die Regierung verteidigt ihren Kurs, die Opposition
findet diesen ganz schlimm. Applaus, Zwischenrufe, höhnisches
Gelächter. Einzelne Störenfriede, zu deren Wortbeiträgen selbst
mancher Ordner am Rand den Kopf schüttelt. Der Landtag debattierte am
Donnerstag in einer Sondersitzung den weiteren Kampf gegen die
Pandemie - mal wieder. Die Abgeordneten beschwören dabei, dass der
Krisen-Kurs nichts mit Parteipolitik zu tun haben darf, dass
Gesundheit und Menschenleben zu wichtig seien für
Profilierungsspielchen und Parteiengezänk. Aber die parlamentarischen
Reflexe gelten eben auch in historischen Krisen.

Seit Monaten regiert die grün-schwarze Exekutive das Land per
Verordnung. Das Parlament will mitreden. Deshalb kommen die
Abgeordneten nun in regelmäßigen Abständen zu Sondersitzungen
zusammen, um die Beschlüsse zu debattieren - und zu legitimieren.

Am Donnerstagmorgen um 10.00 Uhr schreitet der Ministerpräsident ans
Pult. Lange musste er verhandeln am Vorabend, die Schalte mit den
Länderchefs und der Kanzlerin dauerte viele mühsame Stunden.
Eigentlich wollte Winfried Kretschmann noch am Abend vor die Kameras
treten, aber das Pressestatement wurde wegen der Verzögerungen
abgesagt. Nun präsentiert er im Landtag, was Bund und Länder
beschlossen haben: Private Treffen werden noch strenger begrenzt,
über Weihnachten sollen die Beschränkungen aber gelockert werden. Die
Schulen bleiben offen, die Wirtshäuser bleiben zu.

Kretschmann nutzt den Auftritt im Plenum, um mal wieder fleißig zu
appellieren, so wie er es seit vielen Monaten tut. Er könne
verstehen, wenn die Menschen zornig und frustriert seien, keine Lust
mehr hätten auf die Pandemie und ihre Regeln. «Wir müssen durchhalten

auf den letzten Metern, um den Sieg nicht zu gefährden», sagt er.

Und doch ist nichts normal in diesem Plenum. Die Abgeordneten müssen
mehr Abstand halten, sitzen auf der Pressetribüne, sie müssen Masken
tragen, wenn sie sich durch das Gebäude bewegen. Nach jedem Redner
wird das Pult desinfiziert. Bereits am Morgen säumen Polizisten das
ganze Gebäude. Ein Polizeihund wird an der Leine über das Gelände
geführt und schnüffelt sich über die Wiese, ein Stück weiter hinten

im Park haben sich ein paar Polizeireiter postiert. Der Landtag hat
die Sicherheitsmaßnahmen erhöht. Man fürchtet, dass Störer eindring
en
und die Parlamentarier bedrängen und belästigen könnten wie vor
wenigen Tagen im Bundestag. Von Donnerstag an gilt ein verschärftes
Bannmeilenkonzept und strengere Kontrollen am Eingang.

Seit Monaten wird nun gerungen um Inzidenzen und Impfstoffe, um
offene Schulen und geschlossene Wirtshäuser, um Lockerungen und
Lockdown. Auch am Donnerstag wird über den aktuellen Kurs von Bund
und Ländern gestritten, ganze vier Stunden lang. Die Opposition regt
sich darüber auf, dass das Parlament zwar mitreden, aber nicht
mitentscheiden dürfe. Auf der Ministerpräsidentenkonferenz gehe es zu
wie auf dem orientalischen Basar, kritisiert FDP-Fraktionschef
Hans-Ulrich Rülke. Man halte die Sitzung erst ab, wenn die Beschlüsse
bereits gefallen seien, sagt SPD-Fraktionschef Andreas Stoch.

Am Ende segnen die Abgeordneten von Grün-Schwarz die Maßnahmen der
Landesregierung mit einem Entschließungsantrag ab. Und so bleibt der
Austausch von Argumenten. Die Regierung mache zu viel, schimpft die
FDP. Fraktionschef Rülke hatte der Landesregierung zuletzt eine
Jo-Jo-Politik zugeschrieben, nun steigert er sich zum Vorwurf einer
Schrotflintenpolitik - damit nimmt er die pauschalen Maßnahmen gegen
das Virus ins Visier. Man schieße ins Blaue und hoffe damit,
irgendwie Infektionsherde zu treffen. Das erweise sich aber als
Rohrkrepierer und schade etwa dem Handel.

Die Regierung mache zu wenig, schimpft die SPD. Grün-Schwarz habe die
Dramatik der Lage nicht begriffen. Kretschmann führe eine Regierung
des Stillstands, und Firmen wie Schulen müssten für die Bummelei
büßen. Die Landesregierung laufe entweder dem Bund hinter, warte auf
Gerichte oder gebe Entscheidungen nach unten ab, etwa zu der Frage,
ob Kommunen Weihnachtsmärkte ausrichten sollen.

SPD und FDP sind sich einig, dass Grün-Schwarz den Sommer verschlafen
habe - ohne Szenarien zu entwickeln, ohne Antigentests für vulnerable
Gruppen oder FFP2-Masken zu beschaffen. Und die Opposition beklagt,
dass es kein Konzept gebe, keine Strategie. Aber den einen
Masterplan, den gebe es eben nicht, entgegnet CDU-Fraktionschef
Wolfgang Reinhart. Man müsse navigieren zwischen Freiheit und
Gesundheit. «Nach wie vor bleiben wir Tastende, Lernende.» Man sei
auf dem richtigen Weg. «Das Wasser steht uns bis zum Hals, aber
immerhin: Es steigt derzeit nicht mehr», sagte er.

Man fahre weiter auf Sicht, rechtfertigte sich auch Kretschmann. Ganz
der Biologie-Lehrer, referiert aus dem virologischen
Instrumentenkasten - und dreht zum Ende der Debatte richtig auf, als
ein AfD-Abgeordneter ihm eine Frage stellen will. Die lässt der
Regierungschef erst gar nicht zu. Eine Debatte mit der AfD mache
keinen Sinn, weil sie das Virus als harmlos ansehe, ruft Kretschmann
zum rechten Rand des Plenums. Wenn die Menschheit stets so auf
Pandemien reagiert hätte wie die AfD, «dann hätten wir wahrscheinlich

immer noch die Pest». Da erhält er auch mal Applaus aus den anderen
Fraktionen.