An Weihnachten zu Oma - und das Coronavirus im Gepäck? Von Marco Krefting, dpa

Trotz Corona darf zu Weihnachten die liebe Verwandtschaft besucht
werden - die Politik hat grünes Licht gegeben. Familien machen sich
zu Heiligabend auf die Reise, Omi und Opi spielen mit den Enkeln.
Droht uns danach der Corona-Kollaps?

Karlsruhe/Berlin (dpa) - Wenn Stefan Mathias Fuchs an Weihnachten
denkt, ist er skeptisch. «Wir könnten ein normales Fest feiern, wenn
alle diszipliniert wären», sagt der Allgemeinmediziner, der in
Karlsruhe eine Corona-Schwerpunktpraxis betreibt. Nur: So ganz glaubt
er nicht daran. Als soziale Wesen wollten Menschen feiern, das sei
verständlich, sagt Fuchs. «Wenn jetzt irgendwo ein Ventil geöffnet
wird, wird erstmal nachgeholt, was acht Wochen unterdrückt wurde.»

Am Mittwoch haben Bund und Länder festgelegt, was offiziell erlaubt
sein wird: Im engsten Familien- und Freundeskreis darf vom 23.
Dezember bis zum 1. Januar mit maximal zehn Menschen gefeiert werden,
Kinder bis 14 Jahre nicht eingerechnet. Schleswig-Holstein hat eigene
Regeln.

Wie sich solche Lockerungen auf den Verlauf der Pandemie auswirken,
haben Mitarbeiter des Forschungszentrums Jülich und des Frankfurt
Institutes for Advanced Studies in Modellrechnungenen simuliert.

Im besten Fall bliebe die Kontaktrate - also wieviele Menschen jemand
in einem bestimmten Zeitraum trifft - über Weihnachten konstant, weil
zum Beispiel wegfallende Kontakte im Arbeitsleben oder in Schulen
einen geringen Anstieg durch Familienbesuche ausgleichen. Die
Forscher nehmen an, dass die Fallzahlen durch die geltenden
Beschränkungen zunächst sinken. Für den Fall, dass fast alle
Maßnahmen nach dem 20. Dezember aufgehoben werden, würden die Zahlen
im Januar ein Niveau wie Ende Oktober erreichen - das heißt im
Schnitt etwa 20 000 Neuinfektionen täglich.

Für den «Worst Case» haben die Wissenschaftler eine Zunahme dieser
Kontaktrate um 50 Prozent angenommen. Dann würden die Zahlen im
Januar die Marke von täglich 25 000 Neuinfektionen reißen. Die
Forscher sprechen von einem «Weihnachtseffekt», einem Anstieg wie es

ihn beispielsweise durch Reiserückkehrer in den Sommerferien gab.

Doch damit nicht genug: «Die Ausweitung der Kontakte durch Besuche
von Familien und Bekannten, womöglich über das ganze Land hinweg,
könnten zu einer verstärkten geografischen Verteilung der Infektion
führen», schreiben sie. «Damit wären auch Regionen mit niedriger
Inzidenz wieder verstärkt exponiert, was dann auch insgesamt zu einem
stärkeren Anstieg der Neuinfektionen führen würde.»

Viola Priesemann vom Göttinger Max-Planck-Institut für Dynamik und
Selbstorganisation sagt: «Die Feiertage sind wirklich eine
Herausforderung.» Neben Reisen durch die halbe Republik träfen zu
Weihnachten und Silvester unterschiedliche Gruppen - einmal Familien-
und einmal Freundeskreise aufeinander. Hier entstünden Verbindungen.
«Das öffnet den Viren ganz neue Wege, die sie sonst nicht hätten.»

Zudem mischen sich an Weihnachten vermehrt jüngere Menschen mit
älteren, die anfälliger für einen schweren Krankheitsverlauf sind.

Um das Risiko einer Corona-Infektion zu den Festen zu senken, müsse
die Ausbreitung der Pandemie zuvor deutlich stärker eingedämmt
werden, mahnte Priesemann an. Im Moment reichten die Testkapazitäten
nicht aus, weshalb nur bestimmte Gruppen getestet würden. Damit
steige die Dunkelziffer: Einer Modellrechnung zufolge sind derzeit
bis zu zweimal so viele Infektionen unentdeckt wie bekannt.

Wie ernst die Lage jetzt schon im Gesundheitssystem ist, machen
Vertreter von Ärzteschaft und Kliniken deutlich. Der Präsident der
Deutsche Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, sagt: «Wir werden im
Laufe des Dezember voraussichtlich 5000 bis 6000 Intensivpatienten
haben, die Situation ist angespannt, aber noch beherrschbar.»
Momentan liegen knapp 4000 Corona-Patienten auf der Intensivstation.

Susanne Johna, 1. Vorsitzende des Marburger Bundes, verweist auf das
Personal insbesondere in den Notaufnahmen sowie auf den Intensiv- und
Infektionsstationen, das seit Wochen massiv belastet sei. «Die
Notbremse hat gewirkt, das exponentielle Wachstum ist vorerst
gebrochen. Das kann aber kein Ruhepolster sein.» Beide begrüßen
daher, dass die Beschränkungen im Teil-Lockdown fortgeführt werden.

Für Weihnachten appellieren sie an die Vernunft der Bürger. «Ich
glaube auch, dass die Menschen so verantwortungsvoll handeln, dass
die Feiertage nicht völlig unkontrolliert verlaufen und damit all
das, was wir durch den Lockdown erreicht haben, wieder
konterkarieren», sagt Krankenhaus-Vertreter Gaß.

Wie brenzlig die Lage um die Feiertage herum werden könnte - ob mit
oder ohne «Weihnachtseffekt» im Pandemieverlauf -, macht der
Karlsruher Hausarzt Fuchs deutlich: Der ärztliche Bereitschaftsdienst
sei in dieser Zeit eh schon «heillos überlaufen», sagt Fuchs und
betont: «Ein Kollege vertritt neun andere.»

Trotzdem hat er sich fest vorgenommen, auch seine Praxis über
Weihnachten zu schließen. Er wolle sich und seinen Mitarbeitern die
paar Tage zur Erholung gönnen. Seit Beginn der Pandemie seien sie im
Einsatz, hätten alles gegeben. «Irgendwann sind die Kräfte weg.»